Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Max Weber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Weber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027212828
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auf das Recht der Strafe verzichten und galt daher als nicht unbedenklich[275]. Durch die patriarchale Hiao-Vorstellung waren diese feudalen Begriffe abgewandelt worden: man soll Verleumdungen leiden und unter ihren Folgen in den Tod gehen, wenn es der Ehre des Herrn nutzt; man kann (und soll) überhaupt durch treuen Dienst alle Fehler des Herrn ausgleichen, und das war hiao. Der Kotau vor dem Vater, älteren Bruder, Gläubiger, Beamten, Kaiser war gewiß kein Symptom feudaler Ehre: vor einer Geliebten zu knien wäre dagegen für den korrekten Chinesen ganz perhorresziert gewesen. Alles umgekehrt wie bei Rittern und cortegiani im Okzident.

      Die Ehre des Beamten behielt in starkem Maße einen Einschlag von durch Prüfungsleistungen und öffentliche Zensuren der Vorgesetzten geregelter Scholarenehre, auch wenn er die höchsten Prüfungen absolviert hatte. Ganz anders noch als dies für jede Bureaukratie (wenigstens auf den unteren Staffeln, und in Württemberg mit seinem berühmten »Note- I-Fischer«, auch in den höchsten Amtsstellungen) ebenfalls in gewissem Sinn galt.

      Der eigentümliche Scholarengeist, den das Prüfungswesen züchtete, hing eng mit den Grundvoraussetzungen zusammen, von welchen die orthodoxe (und übrigens auch fast jede heterodoxe) chinesische Lehre ausging. Der Dualismus der Schen und Kwei, der guten und bösen Geister, der himmlischen Yang gegenüber der irdischen Yin-Substanz auch innerhalb der Seele des einzelnen Menschen mußte es als einzige Aufgabe der Erziehung, auch der Selbsterziehung, erscheinen lassen: die Yang-Substanz in der Seele des Menschen zur Entfaltung zu bringen[276]. Denn der Mensch, in welchem sie gänzlich die Oberhand über die dämonischen (Kwei-) Mächte, die in ihm ruhen, gewonnen hat, besitzt Macht – nach der alten Vorstellung: magische Macht – über die Geister. Die guten Geister aber sind diejenigen, welche Ordnung und Schönheit, die Harmonie der Welt, schützen. Die Selbstvervollkommnung zu einem Abbild dieser Harmonie ist daher das höchste und einzige Mittel, jene Macht zu erlangen. Der »Kiün-tse«, der »fürstliche Mensch«, einst: der »Held«, war der Literatenzeit der zu allseitiger Selbstvervollkommnung gelangte Mensch: ein »Kunstwerk« im Sinne eines klassischen, ewig gültigen, seelischen Schönheitskanons, wie ihn die überlieferte Literatur in die Seelen ihrer Schüler pflanzte. Daß andererseits die Geister die »Güte« im Sinn der sozialethischen Tüchtigkeit belohnen, war seit der Han-Zeit spätestens[277] feststehender Glaube der Literaten. Güte, temperiert durch klassische (= kanonische) Schönheit, war daher das Ziel der Selbstvervollkommnung. Kanonisch vollendete schöne Leistungen waren, wie der letzte Maßstab der höchsten Prüfungsqualifikation, so die Sehnsucht jedes Scholaren. Ein vollkommener Literat, das heißt, ein (durch Erringung der höchsten Grade) »gekrönter Dichter« zu werden, war der Jugendehrgeiz Li Hung Tschangs'[278]: daß er ein Kalligraph von großer Meisterschaft ist, daß er die Klassiker, vor allem des Konfuzius »Frühling und Herbst« (die früher erwähnten, für unsere Begriffe unendlich dürftigen »Annalen«) wörtlich hersagen kann, blieb sein Stolz und war für seinen Oheim, nachdem er dies erprobt, Anlaß, ihm seine Jugenduntugenden zu verzeihen und ein Amt zu verschaffen. Alle anderen Kenntnisse (Algebra, Astronomie) galten ihm nur als unumgängliche Mittel, »ein großer Poet zu werden«. Die klassische Vollendung des Gedichts, welches er als Gebet im Tempel der Seidenbau-Schutzgöttin im Namen der Kaiserin-Witwe verfaßt hatte, erwarb ihm die Gunst der Herrscherin. Wortspiele, Euphuismen, Anspielungen auf klassische Zitate und eine feine, rein literarische Geistigkeit galt als Ideal der Konversation vornehmer Männer, von der alle aktuelle Politik ausgeschlossen blieb[279]. Daß diese sublimierte, klassisch gebundene »Salon«-Bildung zur Verwaltung großer Gebiete befähigen sollte, mag uns befremdlich erscheinen. Und in der Tat: mit bloßer Poesie verwaltete man auch in China nicht. Aber der chinesische Amtspfründner bewährte seine Standesqualifikation, sein Charisma, durch die kanonische Richtigkeit seiner literaturgerechten Formen, auf welche deshalb auch im amtlichen Verkehr bedeutendes Gewicht gelegt wurde. Zahlreiche wichtige Kundgebungen der Kaiser, als der Hohenpriester der literarischen Kunst, hatten die Form von Lehrgedichten. Und andererseits hatte der Beamte sein Charisma darin zu bewähren, daß seine Verwaltung »harmonisch«, d.h. ohne Störungen durch unruhige Geister der Natur oder der Menschen, ablief, mochte die wirkliche »Arbeit« auch auf den Schultern von Subalternen ruhen. Belohnend, strafend, scheltend, ermahnend, aufmunternd, belobend stand, sahen wir, über ihm der kaiserliche Pontifex, seine Literatenakademie und sein Zensorenkollegium, dies alles: vor aller Oeffentlichkeit.

      Die ganze Verwaltung und die Laufbahn-Schicksale der Beamten mit ihren (angeblichen) Gründen, spielte sich infolge jener Drucklegung der »Personalakten« und der Publikation aller Berichte, Anträge und Gutachten vor der breitesten Oeffentlichkeit ab, weit mehr als irgendeine parlamentarisch kontrollierte Verwaltung bei uns, welche auf Wahrung des »Dienstgeheimnisses« das entschiedenste Gewicht legt. Wenigstens der offiziellen Fiktion nach war die amtliche Zeitung eine Art fortlaufender Rechenschaftsbericht des Kaisers vor dem Himmel und den Untertanen: der klassische Ausdruck jener besonderen Art von Verantwortlichkeit, welche aus seiner charismatischen Qualifikation folgte. Wie fragwürdig immer die Realität der offiziellen Begründung und die Vollständigkeit der Wiedergabe sein mochte, – was für die Mitteilungen unserer Bureaukratie an unsere Parlamente schließlich doch wohl ganz ebenso gilt, – so war dies Verfahren doch immerhin geeignet, dem Druck der öffentlichen Meinung gegenüber der Amtsführung der Beamten ein ziemlich starkes und oft recht wirksames Ventil zu öffnen.

      In China, wie überall, waren es vor allem die unteren, mit der Bevölkerung praktisch in die nächste Berührung gelangenden Stufen der Hierarchie, gegen die sich der allem Patrimonialismus gemeinsame Haß und das Mißtrauen der von ihnen Regierten und deren ebenfalls überall typische, apolitische Vermeidung jeder nicht unbedingt nötigen Berührung mit dem »Staat« wendete. Aber dieser Apolitismus tat der Bedeutung der offiziellen Bildung für die Prägung des Volkscharakters keinen Eintrag.

      Die starken Ansprüche an die Ausbildungszeit, – zum Teil durch die Eigenart der chinesischen Schrift, zum Teil durch die des Lernstoffes bedingt, – und die oft sehr lange Wartezeit nötigten diejenigen, welche nicht aus eigenem oder geliehenem oder in der früher erwähnten Art von der Familie erspartem Vermögen leben konnten, vor Abschluß des Bildungsganges in praktische Berufe aller Art, vom Kaufmann bis zum Wunderdoktor, abzuspringen. Sie gelangten dann nicht bis zu den Klassikern selbst, sondern nur bis zum Studium des letzten (sechsten) Lehrbuchs, der durch Alter ehrwürdigen »Jugendlehre« (Siao Hioh)[280], welche wesentlich Extrakte aus Klassikern enthielt. Nur dieser Unterschied des Bildungs niveaus, nicht aber der Bildungs art schied diese Kreise von der Bureaukratie. Denn eine andere Bildungsart als die klassische gab es nicht. Der Prozentsatz der durch das Examen fallenden Kandidaten war ganz außerordentlich groß. Der infolge der festen Kontingentierung[281] prozentual geringe Bruchteil der in den höheren Graden Diplomierten übertraf dennoch an Zahl die verfügbaren Amtspfründen stets um ein Vielfaches. Um diese konkurrierten sie durch persönliche Patronage[282] oder durch eigenes oder entliehenes Kaufgeld: Pfründenverkauf fungierte hier wie in Europa als ein Mittel der Aufbringung von Kapital für Staatszwecke und ersetzte[283] sehr oft die Prüfungsqualifikation. Die Proteste der Reformer gegen den Aemterverkauf haben, wie die zahlreichen Eingaben dieser Art in der Peking Gazette zeigen, bis in die letzten Tage des alten Systems gedauert.

      Die kurze offizielle Amtsfrist der Beamten (drei Jahre) – ganz entsprechend ähnlichen islamischen Einrichtungen – ließ irgendeine intensive rationale Beeinflussung der Wirtschaft durch die staatliche Verwaltung als solche trotz deren theoretischer Allgewalt nur unstet und stoßweise aufkommen. Es ist erstaunlich, mit wie wenig fest angestellten Beamten die Verwaltung auskommen zu können glaubte. Die Ziffern allein schon ergeben zur Evidenz: daß in aller Regel der Gang der Dinge, soweit er nicht staatliche Macht- und Fiskalinteressen berührte, sich selbst überlassen gewesen sein muß und die Mächte der Tradition: Sippen, Dörfer, Gilden und andere Berufsverbände, die normalen Träger der Ordnung blieben. Dennoch und trotz des eben erwähnten starken Apoli tismus der Massen war der Einfluß der Anschauungen


<p>275</p>

Vgl. aber das Reskript in der Peking Gazette vom 10. 4. 95, wodurch den Offizieren, die nach der Uebergabe von Wei hai wei sich den Tod gaben, posthume Rangerhöhung zuteil wurde (offenbar weil sie die Schuld auf sich nahmen und so eine Kompromittierung des Charisma des Kaisers durch die Schand hinderten).

<p>276</p>

Indessen gab es wenigstens in einem Distrikt auch einen Tempel des Tai ki, der Urmaterie (Chaos), aus welchem sich die beiden Substanzen erst durch Teilung entwickelt haben sollten (Schih Luh Kuoh Kiang Yuh Tschi, übers. von Michels p. 39). S. schon oben.

<p>277</p>

Nach de Groot.

<p>278</p>

S. die auszugsweisen Uebersetzungen der Gräfin Hagen aus seinen Memoiren (Berlin 1915), p. 27, 29, 33.

<p>279</p>

S. die formgewandten und geistreichen, wenngleich etwas reichlich seichten, für Europäer bestimmten Aufzeichnungen Tscheng Ki Tong's (China und die Chinesen, deutsch von A. Schultze, Dresden und Leipzig 1896), p. 158. Ueber chinesische Konversation manche durchaus mit dem Gesagten übereinstimmende Beobachtungen in dem »Reisetagebuch eines Philosophen« des Grafen Keyserling.

<p>280</p>

Siao Hioh (übersetzt von de Harlez, Annales du Musée Guimet XV 1889) ist das Werk Tschu Hi's (12. Jahrh. n. Chr.), dessen wesentlichste Leistung die endgültige Kanonisierung des Konfuzianismus in der von ihm systematisierten Form war. (Ueber ihn: Gall, Le Philosophe Tchou Hi, sa doctrine etc., Variétés sinologiques 6. Shanghai 1894.) Es ist wesentlich ein mit historischen Beispielen arbeitender populärer Kommentar zum Li Ki und war in China jedem Volksschüler geläufig.

<p>281</p>

Die Zahl der »Lizentiaten« war unter die Provinzen aufgeteilt. Wenn eine Notanleihe ausgeschrieben wurde, kam es vor – noch nach der Taiping-Revolution –, daß den Provinzen für die Aufbringung bestimmter Minimalsummen höhere Quoten zugesagt wurden. »Doktoranden« wurden bei jeder Prüfung nur zehn promoviert, deren drei erste besonders hohe Schätzung genossen.

<p>282</p>

Die beherrschende Stellung dieser illustriert die Vergleichung zwischen der Provenienz der drei Höchstgraduierten und derjenigen der höchsten Mandarinen bei Zi a.a.O. App. II p. 221, Anm. 1. Abgesehen davon, daß von den 1646-1914 besetzten 748 hohen Beamtenstellen 398 mit Mandschus besetzt wurden, obwohl nur drei von diesen sich unter den Höchstgraduierten (die drei vom Kaiser als Erste placierten Tien sche) befanden, stellte die Provinz Honan 58 = 1/6aller hohen Beamten, lediglich kraft der Machtstellung der Familie Tseng, während unter den Höchst graduierten fast 2/3 aus anderen an diesen Aemtern zusammen nur mit 30% beteiligten Provinzen stammten.

<p>283</p>

Zuerst durch die Ming-Kaiser 1453 systematisch. (Aber schon unter Schi Hoang Ti als Finanzmaßregel.) Der unterste Grad kostete ursprünglich 108 Piaster gleich dem kapitalisierten Wert der Studienpfründen, dann 60 Taëls; nach einer Ueberschwemmung des Hoangho wurde der Preis zur Erweiterung des Markts behufs ausgiebiger Geldbeschaffung auf 20-30 Taëls herabgesetzt. Seit 1693 wurden auch die Käufer des »Baccalaureats« zu den höheren Prüfungen zugelassen. Eine Taotai-Stellung kostete mit allen Nebenspesen etwa 40000 Taëls.