Deutsche Lebensbilder. Heinrich von Treitschke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich von Treitschke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066114695
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war fortan keine Rede mehr, und noch ehe Luthers Jahrhundert zu Ende ging, begründete Bodinus den Gedanken der Souveränität des Staates zuerst mit wissenschaftlicher Schärfe — eine neue Erkenntnis, die, einmal gefunden, das gemeinsame Besitztum der gesitteten Menschheit geblieben ist. Mochte die Gesellschaft Jesu noch von der Weltherrschaft des Gottesstaates träumen, unaufhaltsam verwuchsen die Staaten Europas zu einer neuen freien Völkergesellschaft und bildeten sich ein weltliches Völkerrecht, das, gerechter als weiland die Urteilssprüche der Päpste, in der Interessengemeinschaft und dem Rechtsbewußtsein der Nationen seine Wurzeln hat. Schritt für Schritt drängte der moderne Staat die Kirche auf ihr geistliches Gebiet zurück; er nahm ihr die Rechtspflege, die Schulverwaltung, das Armenwesen und bewies durch die Tat, daß er diesen politischen Pflichten besser als sie zu genügen vermag. Nichts zeugt so laut für die Gesundheit der politischen Gedanken der Reformation, wie die unleugbare Tatsache, daß die politische Entwicklung in den protestantischen Staaten fast durchweg friedlicher, minder gewaltsam verlaufen ist, als in der katholischen Welt.

      Keinem Volke brachte die Befreiung des Staates von kirchlicher Herrschaft so reichen, so lang nachwirkenden Segen wie uns Deutschen, denn nirgends war die alte Kirche fester mit dem Staate verflochten, als in diesem römischen Reiche und allen den geistlichen Fürstentümern, welche seine Krone stützten. Unleugbar hat die Reformation den längst schon beginnenden Zerfall des alten Reichs gefördert, die längst schon vorhandenen politischen Gegensätze noch durch kirchlichen Haß verschärft. Doch wer Wunden zu heilen vermag, darf sie auch schlagen. Nur aus dem Borne des Protestantismus konnte dies sieche Reich den verjüngenden Trank schöpfen. Nur wenn unser Staat wieder wahr wurde wie seine Kirche, wenn er die zur Lüge gewordenen Ansprüche seines heiligen römischen Kaisertums aufgab und seine Krummstabslande einer weltlichen Obrigkeit unterwarf, nur dann vermochte er wieder zu wachsen mit der wachsenden Zeit.

      Luther selbst hatte diese letzten Schlüsse aus seinen Gedanken nie gezogen. Ihm graute vor den Schrecken eines Bürgerkrieges: „Ehe man in Deutschland eine neue Weise des Reichs anrichtete, so wäre es dreimal verheeret.” Er wußte, daß er kein Staatsmann war, und teilte mit seinem Volke die ehrfürchtige Scheu vor der kaiserlichen Majestät, vor dem jung edlen Blut von Österreich; wie viele Zweifel mußte er überwinden, bis er sich nur entschloß, den Widerstand gegen kaiserliche Übergriffe, der doch im alten Reiche Rechtens war, gutzuheißen. Die Natur der Dinge, die Vernunft der Geschichte, hat schließlich dennoch vollendet, was in dem Heimatlande der Reformation nicht ausbleiben konnte: unrettbar brachen die geistlichen Staaten Deutschlands nach und nach zusammen, bis endlich im Anfang unseres Jahrhunderts die letzten verfaulten Trümmer der römischen Theokratie verweltlicht und mit ihnen auch die römische Kaiserkrone vernichtet wurde. Nun erst, seit unser Staat sich ehrlich zu seinem weltlichen Wesen bekannte, ward die Stätte geebnet für einen Neubau; und auch an dieser letzten heilvollen Wendung unserer Geschicke hat der Reformator seinen Anteil durch eine Tat, deren ferne Folgen ihm verhüllt blieben. Auf Luthers Rat entschloß sich der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuze abzulegen, die falsche Keuschheit des Mönches zu meiden und „eine rechte ordentliche Herrschaft zu gründen, die ohne Gleißen und falschen Namen vor Gott und der Welt angenehm wäre”. So ward das Ordensland Preußen, die Pflanzung des gesamten Deutschlands, in ein weltliches Herzogtum verwandelt und vor der Begehrlichkeit des polnischen Nachbarn gerettet. Luther aber schrieb dankbar: „Siehe dies Wunder! In vollem Laufe, mit vollen Segeln, eilt jetzt das Evangelium durch Preußen!” Er ahnte nicht, welche größeren Wunder unser Volk noch an seiner entlegenen Ostmark erleben sollte. Aus diesem, der alten Kirche geraubten Lande, das mit dem Protestantismus stand und fiel, ist in unvergeßlichen Kämpfen die streitbare Großmacht unserer neuen Geschichte hervorgegangen und endlich, als die Zeiten sich erfüllten, der neue Staat der Deutschen, der nicht heilig sein will und nicht römisch, sondern, nach den Worten des Reformators, ohne Gleißen und falschen Namen ein weltliches, ein deutsches Reich. —

      Wie die Einheit des deutschen Staates erst möglich ward, seit die letzten Staatsgebilde der römischen Kirche von unserem Boden verschwanden, so verdanken wir auch den Kämpfen der Reformation das köstliche geistige Band, das uns in den Tagen deutscher Zerrissenheit lange fast allein zusammenhielt, unsere neue Sprache. Was selbst dem Zauber unserer ritterlichen Dichtung nicht gelungen war, den deutschen Norden unter die Herrschaft der hochdeutschen Sprache zu beugen, das gelang erst, als die schöne Lieblingsstätte des Minnesanges, die Wartburg, zum zweiten Male unserem Volke teuer ward und von dort die ersten Bücher der deutschen Bibel ausgingen — die Heilige Schrift, übertragen mit strenger Treue durch einen wahlverwandten religiösen Genius und doch so ganz verdeutscht, so ganz beseelt von dem Hauche deutschen Gemütes, daß wir uns heute das Bibelwort in anderer Fassung kaum noch denken können. Gleich den Italienern empfingen wir unsere Schriftsprache mit einem Male durch die Tat eines Mannes. Es liegt aber im Wesen des Genius, das Notwendige, das einfach Natürliche zu wollen. Wie Dante nicht willkürlich neuerte, sondern nur die Volkssprache seiner toskanischen Heimat adelte und durchgeistigte, so hegte auch Luther nur schlicht und recht die Absicht, von seinem ganzen Volke verstanden zu werden, damit Gott deutsch zu den Deutschen rede. Er benutzte daher das gemeinverständliche Mitteldeutsch, das schon überall, wo Ober- und Niederdeutsche unter einem Herrscher zusammensaßen, in dem Staate des deutschen Ordens, in den Kanzleien der lützelburgischen Kaiser und der sächsischen Kurfürsten von der Obrigkeit geredet wurde.

      Also wirkten gebend und empfangend alle Stämme der Nation zu den Taten der Reformation zusammen. Im Norden fand der Protestantismus seinen festen politischen Rückhalt; die mächtige Sprache aber, welche fortan das evangelische Deutschland geistig beherrschte, kam aus dem Oberlande, aus jenen Gauen Süd- und Mitteldeutschlands, die zu allen Zeiten das warme Nest unserer Dichtung und also auch der Sprachbildung geblieben sind. Und dies Hochdeutsch war die Sprache von Luthers Heimat; seine Laute klangen ihm vertraut von Kindesbeinen an; so hatte er schon das Volk in den Mansfelder Bergwerken, seines lieben Vaters Schlegelgesellen, reden hören. Sprachgewaltig, wie seitdem nur einer noch, Goethe, ward er der volkstümlichste aller unserer Schriftsteller. In seinen Schriften vereinigt sich, was sonst unvereinbar scheint, der Tiefsinn, die gedrängte Gedankenfülle des Buchs und die fortreißende Macht, der sprudelnde Wörterreichtum der Rede, so daß der Leser immer die herzbewegende Stimme des Predigers zu hören meint; dem Einfältigen geben sie genug, und der Denkende findet des Nachsinnens kein Ende. In Kämpfen geboren, kann diese Sprache des Freimuts und der Wahrhaftigkeit bis zum heutigen Tage die Zeichen ihres Ursprungs nicht verleugnen. Gewaltig vermag sie zu zürnen, übermütig zu spielen in toller Laune, zu den Höhen des Gedankens steigt sie kühn empor, für jedes holde Geheimnis des Herzens findet sie ein liebliches Wort; doch wer sie zwingen will, ihre Meinung zu bemänteln oder tückisch unterm Zaum hervor zu beißen oder gar den überbildeten Geschmack durch das Pikante und Scharmante zu reizen, dem schenkt sie wenig, den läßt sie betteln gehen an den Tischen der Fremden.

      Mehr denn hundert Jahre hat es noch gewährt, bis dies neue Deutsch, das in der Predigt und dem Gemeindegesange der evangelischen Kirche kräftig erklang, zum Gemeingut unseres Volkes wurde, bis auch die Wissenschaft volkstümlich und weltlich ward und das Wort sich ganz erfüllte, das Ulrich von Hutten schon in den ersten Tagen überschwenglicher Hoffnung zuversichtlich in die Welt hinausgerufen hatte: „Sonst waren nur die Pfaffen gelehrt, jetzt hat uns Gott auch Kunst beschert, daß wir die Bücher auch verstahn”. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kam über den lutherischen Zweig des deutschen Protestantismus eine lange Zeit unheilvoller Erstarrung, da fast allein die weihevollen Klänge des evangelischen Kirchenliedes noch Kunde gaben von dem ursprünglichen Geiste der Reformation und in der neuen wie in der alten Kirche herrschsüchtige Theologen der weltlichen Wissenschaft Richtung und Grenze vorschrieben. Nur der Heldenmut seiner tatkräftigeren Schwesterkirche, nur der Kampf der Calvinisten Niederlands wider die spanische Krone, bewahrte damals das verkommene Luthertum vor dem sicheren Untergange. Erst der Jammer des Dreißigjährigen Krieges brachte auch uns die Selbstbesinnung. Die Pietisten von Halle erweckten unserem Volke wieder den lebendigen evangelischen Geist, den Geist der brüderlichen Liebe, der das Evangelium leben wollte und über dem öden Buchstabengezänk der letzten Jahrzehnte ganz vergessen schien; Pufendorf vertrieb die Theologen aus den politischen Wissenschaften, Thomasius wagte zuerst auf deutschem Lehrstuhl deutsch zu reden; und auf dem also bereiteten Boden erhob sich sodann unsere neue Wissenschaft und Dichtung, ganz frei von konfessioneller