Deutsche Lebensbilder. Heinrich von Treitschke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich von Treitschke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066114695
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versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.”

      Gewiß war Luthers Tat eine Revolution, und da der religiöse Glaube im innersten Kerne des Volksgemüts wurzelt, so griff sie in alles Bestehende tiefer ein als irgendeine politische Umwälzung der neuen Geschichte. Es ist wahrlich kein Zeichen evangelischen Mutes, wenn manche wohlmeinende Protestanten dies zu leugnen oder zu verhüllen suchen. Nur ein Mann, in dessen Adern die ungebändigte Naturgewalt deutschen Trotzes kocht, konnte so Vermessenes wagen. Die ganze alte Ordnung der sittlichen Welt, die einem Jahrtausend heilig gewesen, die lange Kette der ehrwürdigen Traditionen, welche das Leben der Christenheit gebunden hielten, brach mit einem Schlage zusammen, und lebhaft können wir heute dem Gegner des Reformators, dem Elsässer Murner, nachempfinden, wenn er heim Anblick der ungeheuren Zerstörung jammernd ausrief:

      Alle Bücher sein erlogen,

       Die je beschrieben sind,

       Die Heiligen han betrogen,

       Die Lehrer sein all blind!

      Die Größe der historischen Helden besteht in der Verbindung von Seelenkräften, die nach der Meinung des platten Verstandes einander ausschließen. So gewaltig die Kühnheit des schlichten Mannes, der sich selber nur eine Gans unter den Schwänen nannte und dennoch sich vermaß, gegen die stärksten politischen und sittlichen Mächte der Zeit in die Schranken zu treten, ebenso erstaunlich erscheint von Haus aus seine Mäßigung. Nie war er kühner, als da er den Bilderstürmern von Wittenberg die Mahnung der Liebe zurief: Macht mir nicht aus dem Frei sein ein Muß sein! Mit kindlichem Vertrauen baute er auf die Macht des göttlichen Wortes allein. Und sein Glaube trog ihn nicht; denn nachdem erst die wilden Zuckungen des Bauernkrieges und der Wiedertäuferei überwunden waren, vollzog sich der Sieg der Reformation in Deutschland fast überall friedlich, frei aus dem Volke heraus. Bei allem Häßlichen, das sich mit ansetzte, trug die große Bewegung doch jenen Charakter schlichter Treuherzigkeit und Kraft, der alle große Epochen der deutschen Geschichte auszeichnet; sie schenkte unserem Volke die Form des Christentums, welche dem Wahrheitsdrange und der unzähmbaren Selbständigkeit der deutschen Natur zusagt, gleichwie die römische Kirche der Logik und dem Schönheitssinne der Romanen, die orthodoxe Kirche der halborientalischen Gebundenheit der gräko-slawischen Welt entspricht. Und weit hinaus über den Kreis seiner Glaubensgenossen wirkte Luthers Wort; er war im Rechte, wenn er den deutschen Bischöfen zurief: „Ihr habt mein Evangelium verdammen lassen, habt es aber heimlich und in vielen Stücken angenommen.” Mit gutem Grunde nennen wir ihn heute einen Wohltäter auch der alten Kirche. Denn auch sie ward durch ihn gezwungen, ihre sittlichen Kräfte zusammenzuraffen, auch sie blieb nicht unberührt von der innigen, seelenvollen Auffassung des Glaubens, welche Luther der Christenheit wiedergab. Eine so sinnliche Ablaßlehre, wie sie Tetzel einst predigte, wäre auf deutschem Boden jetzt unmöglich; und sicherlich steht heutzutage der denkende deutsche Katholik dem deutschen Protestanten in seiner ganzen Weltanschauung näher als seinem spanischen Glaubensgenossen.

      In allen den mächtigen Wandlungen unseres geistigen Lebens seitdem ist der Grundgedanke der Reformation, die freie Hingebung der Seele an Gott, unwandelbar das sittliche Ideal der Deutschen geblieben. Er kehrt, ins Weltliche gewendet, wieder in dem strengen Ausspruch Kants, daß überall auf der Welt nichts für gut gehalten werden dürfe, als allein ein guter Wille; er tönt uns entgegen aus dem milden Gesange der Engel, die Fausts Unsterbliches gen Himmel tragen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.” Wir danken der Reformation das lebendige Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse, worauf die heutige deutsche Gesittung beruht, jene freie Duldsamkeit, die weder der Furcht noch dem Kaltsinn entspringt, sondern der Erkenntnis, daß das Licht der göttlichen Offenbarung, wie heute die Welt noch steht, nur gebrochen in vielen Strahlen dem Auge der Menschheit erkennbar ist; denn so gewiß kein Sohn des sechzehnten Jahrhunderts, auch Luther nicht, verstanden hätte, was wir heute Toleranz nennen, ebenso gewiß ist diese Duldung nur möglich geworden auf dem Boden des Protestantismus, der den hochmütigen Wahn einer alleinseligmachenden Kirche grundsätzlich verwirft. Wir danken ihr, daß der Deutsche zugleich fromm und frei empfinden kann, daß keiner unserer großen Denker, wie kühn sich auch die Flüge ihres Geistes erhoben, jemals in den lästernden Spott eines Voltaire verfiel, und die Todsünde der Heuchelei unter uns eine seltene Ausnahme ist.

      Denn das ist die Größe des Protestantismus, daß er einen Widerspruch zwischen dem Denken und dem Wollen, zwischen dem religiösen und dem sittlichen Leben nicht dulden will, sondern gebieterisch fordert: Was du erkannt hast, das bekenne und darnach handle! Zu Luthers Zeiten standen die Italiener unserem Volke in Kunst und Wissenschaft weit voran. Bereits im vierzehnten Jahrhundert war unter ihnen Petrarca aufgetreten, der erste moderne Mensch, der ganz auf eigenen Füßen stand und die Binde sich von den Augen gestreift hatte; und nun gerade in den Tagen des deutschen Ablaßstreites schrieb Machiavelli jene zwei Bücher vom Staate, die mit den überlieferten Vorstellungen des Mittelalters weit rücksichtsloser brachen als Luther. Jedoch den Romanen fehlte die Kraft, ihre eigenen Gedanken in vollem Ernst zu nehmen, sie brachten es über sich, ihr Gewissen zu teilen und einer Kirche, die sie verspotteten, zu gehorchen. Die Deutschen wagten, das Leben nach der erkannten Wahrheit zu gestalten, und weil die historische Welt die Welt des Willens ist, weil nicht der Gedanke, sondern die Tat das Schicksal der Völker bestimmt, darum beginnt die Geschichte der modernen Menschheit nicht mit Petrarca, nicht mit den Künstlern des Quattrocento, sondern mit Martin Luther. Merkwürdig früh hat die europäische Welt dies erkannt. Nur hundertundvierzig Jahre nach Luthers Tode stellte der deutsche Historiker Cellarius die Behauptung auf, gegen den Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts sei eine alte, für uns abgeschlossene Zeit zum Ende gelangt, das Mittelalter. Bei allen Völkern hat sich seitdem Begriff und Name des Mittelalters eingebürgert, und dabei wird es bleiben, obwohl die Selbstverliebtheit unserer Tage zuweilen, ganz vergeblich, versucht, die Geschichte der neuen Zeit erst mit der französischen Revolution zu beginnen. —

      Gleich allen echten Germanen hegte Luther ein tiefes Gefühl historischer Pietät, und er liebte, die große Neuerung, die er in der Kirche vollzog, sich nur als die Wiederherstellung der ursprünglichen Zustände des Christentums zu denken. Dagegen wußte er wohl, daß er das politische Leben der Völker mit einem schlechthin neuen Gedanken befruchtet hatte. „So stund’s aber dazumal,” — sagt er über die Zeiten der Jugend — „es hatte niemand gelehret noch gehöret, wußte auch niemand von der weltlichen Obrigkeit, woher sie käme, was ihr Amt oder Werk wäre oder wie sie Gott dienen solle.” In der Tat war der Staat noch niemals zu seinem vollen Rechte gelangt, seit die schwere, der heidnischen Welt unbekannte Frage nach den Grenzen geistlicher und weltlicher Gewalt zuerst in der Christenheit aufgeworfen wurde. In ihren ersten Jahrhunderten hielt sich die Kirche scheu vor dem Staate zurück, weil er heidnisch war, und als sie dann im Römerreiche die Oberhand gewann, entstand nach und nach, eng verbunden mit der Verfassung und dem Dogma der Kirche, das politische System der kirchlichen Weltherrschaft. Das ganze Leben der Christenheit erscheint als eine fest geordnete Einheit; Staat und Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, alle Berufe der Menschen empfangen ihre sittlichen Gesetze aus den Händen der Kirche; die Kirche ist der Staat Gottes, der weltliche Staat das Reich des Fleisches, ohne eigenen sittlichen Zweck und nur dann vor Gott gerechtfertigt, wenn er dem Schiedsrichter der Staatenwelt, dem Papste, seinen starken Arm zum Dienste leiht. Kein kräftiger Staat des Mittelalters hatte diese herrischen Ansprüche des Papsttums jemals vollständig anerkannt. Seit Dante, seit Marsilius von Padua und den tapferen ghibellinischen Schriftstellern, die sich um Kaiser Ludwig den Bayern scharten, war das Ansehen der kirchlichen Weltstaatslehre auch in der Wissenschaft bereits tief erschüttert. Sie ganz zu überwinden, konnte doch nur dann gelingen, wenn der Stier bei den Hörnern gepackt und die Herrschaft des Priesterstandes in der Kirche selbst verworfen wurde.

      Erst Luther warf den Satz „Geistliche Gewalt ist über der weltlichen”, diese starke Mauer der Romanisten, in Trümmer und lehrte, daß der Staat selber eine Ordnung Gottes ist, berechtigt und verpflichtet, seinen eigenen sittlichen Lebenszwecken, unabhängig von der Kirche, nachzugehen. Damit ward der Staat für mündig erklärt, und da er wirklich schon zu seinen Jahren gekommen war, da die weltliche Gewalt überall an dem erstarkten Selbstgefühl der Nationen eine sichere Stütze fand, so wirkte diese Tat der politischen Befreiung fast noch gewaltiger, noch weiter in die Welt hinaus, als die Reformation der Kirche. Alle Kronen, ohne Ausnahme, katholische wie evangelische, sagten