Sechsunddreißigstes Kapitel
Wenn Daylight auch nach außen stets als der starke, kräftige Mann mit der unerschöpflichen, überströmenden Energie auftrat, so war er innerlich doch sehr müde. Und zuweilen hatte er, vom Whisky betäubt, Augenblicke, in denen er alles weit klarer sah als in nüchternem Zustand, wie zum Beispiel eines Abends, als er, einen Schuh in der Hand, auf dem Bettrande saß und über Dedes Bemerkung grübelte, daß er immer nur in einem Bett auf einmal schlafen könne. Immer noch den Schuh in der Hand, ließ er den Blick über die Roßhaarzügel an der Wand gleiten. Dann erhob er sich, den Schuh in der Hand, zählte die Zügel feierlich und ging in die beiden anstoßenden Zimmer, um die Zählung zu beenden. Als er wieder auf dem Bett saß, sprach er ernsthaft zu seinem Schuh:
»Die Kleine hat recht. Nur ein Bett auf einmal. Hundertvierzig Roßhaarzügel, ohne daß ich einen einzigen gebrauchen könnte. Ein Zügel auf einmal. Ich kann nur ein Pferd auf einmal reiten. Armer alter Bob. Es wäre besser, wenn ich dich auf die Weide schickte. Dreißig Millionen Dollar und hundert Millionen oder gar nichts in Sicht, und was hab' ich davon? Es gibt eine Menge Dinge, die man nicht für Geld kaufen kann. Die Kleine kann ich nicht kaufen. Tüchtigkeit kann ich nicht kaufen. Was hab' ich von dreißig Millionen, wenn ich nicht mehr als einen Liter Cocktail täglich nehmen kann? Wenn ich Durst auf hundert Liter hätte, dann wäre es was anderes. Aber einen Liter – ein elendes Literchen. Hier sitze ich, der dreißigfache Millionär, und schufte mich Tag für Tag mehr ab als ein Dutzend von den Leuten, die für mich arbeiten, und alles, was ich davon habe, sind zwei Mahlzeiten, die mir nicht schmecken, ein Bett, ein Liter Martinis und hundertvierzig Roßhaarzügel an der Wand.« Er starrte melancholisch die ganze Ausstellung an. »Ich bin ein schöner Esel, Herr Schuh. Gute Nacht.«
Viel schlimmer als der beherrschte Dauertrinker ist der stille Säufer, und das wurde Daylight jetzt. Er trank selten in Gesellschaft, fast immer allein in seinem Zimmer. Täglich, wenn er von seiner Arbeit und Mühe heimkam, trank er, bis er schläfrig wurde, und schlief ein mit dem Bewußtsein, daß er am nächsten Morgen mit trockener, brennender Kehle aufwachen und dasselbe Tagesprogramm wiederholen würde.
Das Land erholte sich mit seiner gewöhnlichen Elastizität. Die Geldknappheit aber dauerte an, obwohl die Leser von Daylights Zeitungen wie von den andern von Privatleuten subventionierten Blättern zu dem Ergebnis hätten kommen können, daß jede Schwierigkeit vorbei und die Panik überstanden wäre. Alle öffentlichen Äußerungen waren zuversichtlich, aber die Privatleute befanden sich zum großen Teil in schrecklicher Verlegenheit. Die Auftritte, die in Daylights Privatkontor und bei seinen Direktionssitzungen stattfanden, hätten die Leitartikel in seinen Zeitungen Lügen gestraft, und auch die Reden, die er etwa den Großaktionären der Sierra- und Salvador-Elektrizitäts-Kompagnie der Vereinigten Wasserwerke und einiger anderer Gesellschaften hielt.
Schließlich, als der Sommer im Anzug war, trat eine Wendung zum Besseren ein. Es kam ein Tag, da Daylight etwas tat, was er noch nie getan hatte. Er verließ das Geschäft eine ganze Stunde früher als gewöhnlich, weil nicht die geringste Arbeit mehr zu tun war. Bevor er ging, trat er in Hegans Privatbureau, um einen Augenblick mit ihm zu schwatzen, und als er sich erhob, um zu gehen, sagte er:
»Hegan, wir sind übern Berg. Wir gehen als ganze Kerle aus diesem Pfandleihgeschäft heraus und tun es, ohne ein einziges Pfand im Stich zu lassen. Das Schlimmste ist überstanden und das Ende in Sicht. Nur noch die Zügel ein paar Wochen stramm halten, dann können wir loslassen und uns in die Hände spucken.«
Diesmal änderte er sogar sein Programm. Statt direkt in sein Hotel zu fahren, machte er die Runde durch verschiedene Bars und Cafés, trank hier und da einen Cocktail, auch zwei bis drei, wenn er Bekannte traf. Nachdem er wohl eine Stunde auf diese Art verbracht hatte, kam er ins Parthenon, um noch ein Glas zu trinken, ehe er zum Essen heimging. Er hatte schon ein gut Teil getrunken und war sehr aufgeräumt und guter Laune. An einer Ecke der Bar standen einige junge Leute und belustigten sich mit dem alten Trick, die Ellbogen auf die Schranke zu stemmen und sich gegenseitig die Hände herunterzudrücken. Ein breitschulteriger junger Riese schlug, ohne selbst den Ellbogen zu verrücken, alle Hände nieder, die sich ihm entgegenstreckten. Das erweckte Daylights Interesse. »Das ist Slosson«, antwortete der Barkeeper ihm auf seine Frage. »Der beste Schwerhammerwerfer von ganz Ober-Kanada. Er hat alle Rekorde heuer geschlagen, sogar den Weltrekord. Ein tüchtiger Kerl.« Daylight nickte, trat zu dem jungen Mann und legte seinen Arm zurecht.
»Ich möchte dir eine Chance geben, mein Sohn«, sagte er.
Der junge Mann lachte, griff zu, und zu Daylights Überraschung wurde seine eigene Hand auf den Schanktisch gezwungen.
»Warte«, murmelte er. »Noch einmal. Ich war noch nicht fertig diesmal.«
Wieder griffen die Hände der beiden Männer umeinander. Es ging schnell. Die Offensive von Daylights Muskeln ging sogleich in Abwehr über, aber wieder wurde seine vergebens widerstrebende Hand heruntergedrückt. Daylight war verblüfft. Es war kein Trick gewesen. Die Gewandtheit war auf beiden Seiten gleich, wenn nicht größer auf der seinen, Kraft, reine Kraft hatte es gemacht. Er bestellte Getränke, hob, immer noch verblüfft und grübelnd, seinen eigenen Arm und betrachtete ihn wie etwas Fremdes und Neues. Er erkannte ihn nicht wieder. Jedenfalls war es nicht der, mit dem er all die Jahre herumgegangen war. Der alte Arm? In alten Tagen wäre es Spielerei gewesen, die Hand des jungen Riesen niederzuzwingen. Aber dieser Arm – er betrachtete ihn immer noch mit einem so zweifelnden, verblüfften Ausdruck, daß die jungen Leute laut lachten.
Ihr Gelächter riß ihn aus seinen Betrachtungen. Im ersten Augenblick stimmte er ein, aber dann trat allmählich ein ernster Ausdruck in seine Züge. Er lehnte sich über den Schanktisch und sagte zu dem Hammerwerfer:
»Mein Sohn, laß mich dir ein Geheimnis ins Ohr flüstern. Mach', daß du von hier wegkommst und aufhörst zu trinken, ehe du richtig damit angefangen hast.««
Der junge Mann wurde rot vor Zorn, aber Daylight fuhr ruhig fort:
»Hör' auf deinen Papa und laß dir ein paar gute Ratschläge geben. Ich bin selbst ein junger Mann, aber nicht mehr so richtig. Ich will dir was sagen: Vor ein paar Jahren wäre es mir ein Kinderspiel gewesen, deine Hand runterzudrücken.«
Slosson sah ihn zweifelnd an, während die andern sich grinsend um Daylight drängten.
»Mein Sohn, ich bin kein Prediger. Es ist das erstemal, daß ich den reuigen Sünder spiele, und du selbst hast mich dazu gebracht. Ich hab' in meinem Leben schon mit manchem zu tun gehabt, und ich war nicht wählerisch, was du selbst am besten beurteilen kannst. Ich will dir sagen, daß ich reich bin, der Teufel weiß, wieviel Millionen ich habe, aber ich will alles bis auf den letzten Schilling hier auf den Tisch legen, um deine Hand runterzukriegen. Mein Sohn, so steht es mit mir, und so sehe ich selbst die Sache an. Das Spiel lohnt sich nicht. Hüte dich und denk' mal darüber nach, was ich dir gesagt habe. Gute Nacht.«
Er drehte sich um und taumelte hinaus, und der moralische Eindruck seiner Predigt litt stark darunter, daß er, als er sie hielt, so offensichtlich betrunken war.
Noch immer halb betäubt, fuhr Daylight in sein Hotel, aß Mittag und schickte sich an zu Bett zu gehen.
Er hielt den Arm, der ihn so geärgert hatte, hoch und betrachtete ihn mit schlaffer Verwunderung. Die Hand, die noch jeden besiegt, die diesen Riesen von Circle City zum Winseln gebracht hatte! Und ein Schuljunge hatte sie runtergedrückt – zweimal, mit grinsendem Gesicht. Dede hatte recht. Er war nicht mehr der Mann, der er einst gewesen. Er mußte ernster und gründlicher über die Situation nachdenken, als er bisher getan. Aber jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt dazu. Am Morgen, wenn er ausgeschlafen hatte, wollte er es tun.
Siebenunddreißigstes Kapitel