Pundarik trat vor, und es ward plötzlich still in der großen Halle. Das Haupt erhoben, die Brust gedehnt, begann er mit Donnerstimme den König Narajan zu preisen. Seine Worte brandeten wie Wogen gegen die Mauern der Halle und schienen der lauschenden Menge bis ins Mark zu dringen. Die Geschicklichkeit, mit der er den Namen Narajan auf verschiedene Weise deutete und jeden Buchstaben in allen möglichen Verbindungen durch das Gewebe seiner Verse flocht, nahm seinen erstaunten Hörern den Atem.
Nachdem er wieder Platz genommen hatte, hallte noch minutenlang seine Stimme zwischen den zahllosen Säulen der königlichen Halle und in Tausenden von sprachlosen Herzen nach. Die gelehrten Professoren, die aus fernen Ländern gekommen waren, erhoben ihre Rechte und riefen: Bravo!
Der König warf einen Blick auf Schekhar, und dieser richtete einen Augenblick die Augen schmerzerfüllt auf seinen Herrn; dann erhob er sich wie ein angeschossenes Wild in höchster Not. Sein Antlitz war bleich, seine Schüchternheit war fast die eines Mädchens, seine schlanke, jugendliche Gestalt schien wie eine straff gespannte Leier bei der geringsten Berührung in Musik ausbrechen zu wollen.
Er begann gesenkten Hauptes, mit leiser Stimme. Die ersten Verse waren fast unhörbar. Dann hob er langsam das Haupt und seine klare, süße Stimme stieg wie eine zitternde Feuerflamme in die Lüfte.
Er begann mit der alten Sage aus dunkler Vorzeit von dem Geschlecht des Königs und erzählte von dem Heldensinn und dem unvergleichlichen Edelmut dieses Geschlechts bis hinab in die Gegenwart. Er richtete den Blick auf das Antlitz des Königs, und die ganze unermeßliche Liebe zum Königshause, die das Volk still im Herzen hegte, fand Ausdruck und stieg wie Weihrauch in seinem Liede auf, den Thron von allen Seiten einhüllend. Dies waren seine letzten Worte, als er sich zitternd setzte: „Herr, wohl mag man mich im Spiel der Worte übertreffen, aber niemals in meiner Liebe zu dir.“
Tränen füllten die Augen der Hörer, und die Steinmauern erbebten von dem Beifallssturm.
Doch Pundarik schüttelte bei diesem allgemeinen Gefühlsausbruch nur erhaben sein majestätisches Haupt. Dann erhob er sich und warf mit verächtlichem Lächeln die Frage in die Versammlung: „Was gibt es Höheres als das Wort?“ Augenblicklich verstummte der Beifall.
Und nun bewies er, indem er eine erstaunliche Gelehrsamkeit entfaltete, daß das Wort von Anfang an gewesen sei, daß das Wort Gott sei. Er brachte einen Haufen von Belegen aus den heiligen Schriften und errichtete daraus dem Wort einen hohen Altar, daß es darauf throne über allem, was im Himmel und auf Erden ist. Er wiederholte mit seiner mächtigen Stimme: „Was gibt es Höheres als das Wort?“
Stolz blickte er um sich. Niemand wagte, seine Herausforderung anzunehmen, und er setzte sich, langsam wie ein Löwe, der sich eben an seinem Opfer gesättigt hat. Die gelehrten Brahmanen riefen: „Bravo!“ Der König war stumm vor Staunen, und der Dichter Schekhar kam sich ganz unbedeutend vor neben dieser verblüffenden Gelehrsamkeit. Die Versammlung war damit für den Tag geschlossen.
Am nächsten Tage stimmte Schekhar sein Lied an. Er sang von jenem Tage, wo das Flötenspiel der Liebe zum ersten Mal die Lüfte des Brindawaldes aus ihrem Schweigen aufschreckte. Die Schäferinnen wußten nicht, wer der Spieler war und von wannen die Musik kam. Bald schien sie aus dem Herzen des Südwindes zu kommen, und bald aus den Wolken, die über die Hügel hinzogen. Sie kam und brachte Liebesbotschaft vom Lande des Sonnenaufgangs, und sie schwebte mit Seufzern der Sehnsucht vom Tal des Sonnenuntergangs her. Die Sterne schienen die Register des geheimnisvollen Instruments zu sein, das die Träume der Nacht mit Melodien überflutete. Es war, als ob die Musik plötzlich von allen Seiten heranströmte, von Feldern und Hainen, von schattigen Heckenwegen und einsamen Landstraßen, aus dem zarten Blau des Himmels und aus dem schimmernden Grün des Grases. Sie verstanden ihren Sinn noch nicht und wußten nicht, was die Sehnsucht in ihrem Herzen bedeutete. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Leben sehnte sich, hinabzutauchen ins Meer des Todes und sich ganz darin zu verlieren.
Schekhar vergaß seine Hörer, vergaß, daß er dabei war, sich im Kampf mit seinem Nebenbuhler zu messen. Er stand ganz allein inmitten seiner Gedanken, die um ihn rauschten und flüsterten wie Blätter im Sommerwind, und er sang das Lied von der Flöte. Vor seinem Geiste stand ein Bildnis, das geboren war aus einem Schatten und aus dem leise klingenden Laut eines fernen Schrittes.
Er setzte sich. Ein unnennbares Gefühl wehmütiger Wonne, unbestimmt und grenzenlos, durchbebte die Hörer, und sie vergaßen, ihm Beifall zu rufen. Als sich die Wogen dieses Gefühls legten, trat Pundarik vor den Thron und forderte seinen Nebenbuhler auf zu erklären, wer der Liebende und wer die Geliebte sei. Er blickte stolz und selbstbewußt um sich, lächelte seinen Anhängern zu und fragte noch einmal: „Wer ist Krischna, der Liebende, und wer ist Radha, die Geliebte?“
Dann begann er, die Etymologie dieser Namen zu erklären, und wie man ihre Bedeutung auf verschiedene Weise auslegen könne. Mit vollendeter Geschicklichkeit brachte er alle die verwickelten Systeme der verschiedenen philosophischen Schulen vor die ganz betäubten Zuhörer. Jeden Buchstaben jener Namen trennte er von seinem Nachbarn und hetzte sie alle einzeln mit unbarmherziger Logik, bis sie vernichtet in den Staub sanken. Doch dann griff er sie wieder auf und gab ihnen eine ganz neue Bedeutung, auf die auch der scharfsinnigste Wortkrämer nicht verfallen wäre.
Die Gelehrten waren in Ekstase; laut lärmten sie Beifall, und die Menge stimmte ein, von dem Wahn hingerissen, daß jetzt eben hier vor ihren Augen durch ein Wunder von Intellekt der Vorhang vor der Wahrheit bis auf den letzten Faden zerrissen worden sei. Diese gewaltige Leistung entzückte sie so, daß sie ganz vergaßen, zu fragen, ob denn die Wahrheit nun auch wirklich hinter diesem Vorhang war.
Der König war von Staunen überwältigt. Die Luft war von allen Musikträumen vollständig gereinigt, und die Welt, die vorher im frischen jungen Grün dagelegen hatte, hatte sich in eine solide, gut gepflasterte Landstraße verwandelt.
Dem versammelten Volk erschien ihr Dichter jetzt wie ein bloßer Knabe an der Seite jenes Riesen, der so sicher dahinschritt durch die Welt der Worte und Gedanken und alle Schwierigkeiten mit einem Tritt zu Boden stampfte. Zum erstenmal wurde es ihnen klar, daß die Dichtungen Schekhars lächerlich einfach waren, und daß sie sie ebenso gut selbst hätten schreiben können. Sie waren weder neu, noch schwer verständlich, noch belehrend, noch unentbehrlich.
Der König versuchte heimlich durch scharfe Blicke seinen Dichter zu einem letzten Versuch anzuspornen. Aber Schekhar beachtete es nicht und blieb stumm auf seinem Platz sitzen.
Da stand der König zornig auf von seinem Thron – nahm seine Perlenkette ab und legte sie Pundarik um das Haupt. Alle in der Halle riefen Beifall. Oben vom Balkon her kam ein leises Geräusch, wie das Rauschen eines Gewandes und der Klang von goldenen Glöcklein. Schekhar erhob sich und verließ die Halle.
Die Nacht war dunkel, die Sichel des abnehmenden Mondes gab nur ein mattes Licht. Der Dichter Schekhar nahm seine Manuskripte aus dem Schrank und häufte sie auf dem Fußboden auf. Einige davon enthielten seine ersten Dichtungen, die er fast vergessen hatte. Er blätterte darin und las hier und da eine Seite. Sie schienen ihm alle so unbedeutend und armselig, bloße Worte und kindische Reime.
Er zerriß seine Bücher eins nach dem andern und warf sie ins Feuer, indem er sagte: „Dir, dir will ich sie weihen, o meine Schönheit, mein Feuer! Du hast all diese verlorenen Jahre in meinem Herzen gebrannt. Wenn mein Leben ein Stück Gold gewesen wäre, so wäre es strahlender aus dieser Feuerprobe hervorgegangen. Aber es ist eine zertretene Rasenscholle und nichts bleibt von ihm übrig als diese Handvoll Asche.“
Die Nacht rückte langsam vor. Schekhar öffnete seine Fenster weit. Er breitete auf seinem Lager die weißen Blumen aus, die er so liebte: Jasminblüten, Tuberosen und Chrysanthemen, brachte alles, was er an Lampen im Hause hatte, in sein Schlafzimmer und zündete sie an. Dann vermischte er den Saft einer giftigen Wurzel mit Honig, trank ihn und legte sich auf sein Lager.
Da erklangen draußen im Korridor goldene Fußspangen und die Brise trug einen feinen Duft ins Zimmer.
Der Dichter