Ich hatte mich immatrikulieren lassen und wollte gerade mein Zwischenexamen machen, als mein Vater starb. Ich stand nicht allein, sondern hatte meine Mutter und zwei Schwestern zu erhalten. Daher mußte ich die Universität verlassen und mich nach einer Anstellung umsehen. Nach vielen Bemühungen erhielt ich die Stelle eines zweiten Lehrers an der Präparandenanstalt einer kleinen Stadt im Distrikt Noakhali.
Ich meinte, hier würde ich gerade am Platze sein. Jeden einzelnen meiner Schüler wollte ich durch meinen persönlichen Einfluß zum Führer des künftigen Indiens heranziehen.
Ich begann mit meiner Arbeit und merkte bald, daß das bevorstehende Examen eine dringendere Angelegenheit war, als die Zukunft Indiens. Der Direktor wurde zornig, wenn ich von irgend etwas anderm redete, als Grammatik oder Algebra. Und in ein paar Monaten war es mit meiner Begeisterung aus.
Ich bin kein Genie. In der Stille meines Hauses fasse ich wohl kühne Pläne, aber wenn ich das Arbeitsfeld betrete, muß ich wie der indische Stier meinen Nacken unter das Joch des Pfluges beugen, die Stachelpeitsche meines Herrn ertragen, den ganzen Tag geduldig und mit gebeugtem Haupt die Schollen aufwerfen und zufrieden sein, wenn ich am Abend etwas wiederzukäuen habe. Solch ein Geschöpf ist nicht dazu geschaffen, sich aufzubäumen und Sprünge zu machen.
Einer von den Lehrern mußte der Feuersgefahr wegen in der Schule wohnen. Da ich unverheiratet war, fiel diese Aufgabe mir zu. Ich wohnte in einem Strohschuppen, dicht bei dem großen Schulhause.
Das Schulhaus stand in einiger Entfernung von der Stadt, neben einem großen Teich. Um diesen herum standen Areka- und Kokospalmen und Madarpflanzen, und ganz dicht neben dem Schulgebäude wuchsen zwei große alte Paternosterbäume und warfen weithin kühlen Schatten.
Etwas vergaß ich zu erwähnen, und es schien mir bis hierher auch nicht erwähnenswert. Der dortige Staatsanwalt Ram Lotschan Ray wohnte in der Nähe unserer Schule. Ich wußte auch, daß seine Frau, meine einstige Spielgefährtin Surabala, dort mit ihm wohnte.
Ich machte die Bekanntschaft des Herrn Ram Lotschan. Ich kann nicht sagen, ob er wußte, daß ich Surabala in ihrer Kindheit gekannt hatte. Ich hielt es nicht für angebracht, diese Tatsache bei unserer ersten Bekanntschaft ihm gegenüber zu erwähnen. Ja, ich muß sagen, ich erinnerte mich damals kaum, daß Surabala je irgendwie mit meinem Leben verbunden gewesen war.
An einem schulfreien Tage machte ich Herrn Ram Lotschan einen Besuch. Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten, wahrscheinlich über die unglückliche Lage des heutigen Indiens. Nicht als ob sie ihm besonders am Herzen gelegen hätte, aber man konnte sich so gut ein paar Stunden über diesen Gegenstand breit und behaglich ergehen, während man dazu seine Pfeife schmauchte.
Während wir uns so unterhielten, hörte ich im Nebenzimmer leichte Tritte, das Rauschen eines Gewandes und ein ganz leises Klirren von Armbändern, und ich war gewiß, daß zwei neugierige Augen mich durch den Spalt eines kleinen Fensters beobachteten.
Plötzlich tauchte vor meinem Geiste ein Augenpaar auf, dunkle Augen, aus denen Vertrauen, Unschuld und mädchenhafte Liebe leuchteten, – schwarze Pupillen, lange, dunkle Wimpern, – und die Augen waren ruhig und fest auf mich gerichtet. Mein Herz wurde wie mit eisernem Griff gepackt und krampfte sich in jähem Schmerz zusammen.
Ich kehrte nach Hause zurück, aber der Schmerz wollte nicht weichen. Ob ich las, schrieb oder irgend etwas anderes tat, ich konnte die Last nicht von meinem Herzen abschütteln, sie lag wie ein schwerer Alp auf mir und preßte mir die Brust zusammen.
Am Abend wurde ich etwas ruhiger, und ich versuchte zu überlegen. „Was fehlt mir denn eigentlich?“ In mir fragte etwas: „Wo ist deine Surabala jetzt?“ Ich erwiderte: „Ich habe sie freiwillig aufgegeben. Ich konnte nicht erwarten, daß sie ewig auf mich warten würde.“
Aber die Stimme in mir beharrte: „Damals konntest du sie haben, wenn du nur wolltest. Heute kannst du tun, was du willst, du hast nicht einmal das Recht, sie anzusehen. Die Surabala deiner Knabenzeit mag dir noch so nahe sein; du kannst das Klirren ihrer Armspangen hören und den Duft ihres Haares in der Luft spüren, – und doch wird immer eine Mauer zwischen euch beiden sein.“
Ich antwortete: „Nun gut, sei dem so. Was ist mir Surabala?“
Mein Herz fuhr fort: „Heute ist Surabala dir nichts. Aber was hätte sie dir sein können?“
Ach, das ist wahr. Was hätte sie mir sein können! Das geliebteste aller Wesen, das mir näher stände als die ganze Welt, das alle meine Freuden und Leiden teilte, – das hätte sie sein können. Und jetzt ist sie mir so fern, so fremd, daß sie anzusehen verboten, mit ihr zu sprechen unschicklich, an sie zu denken Sünde ist! – während dieser Ram Lotschan plötzlich von irgendwoher auftaucht, ein paar auswendig gelernte religiöse Formeln murmelt und dann mit einem Griff Surabala davonträgt als seinen alleinigen und unbestrittenen Besitz.
Ich will kein neues Sittengesetz predigen oder die Gesellschaftsordnung stürzen, ich habe nicht die Absicht, Familienbande zu zerreißen. Ich will nur genau das ausdrücken, was in mir vorging, wenn es auch nicht vernünftig ist. Ich konnte auf keine Weise das Gefühl loswerden, daß Surabala, die da im Schutze von Ram Lotschans Heim waltete, weit mehr mir als ihm gehörte. Diese Vorstellung war – das gebe ich zu – unvernünftig und ungehörig, aber unnatürlich war sie nicht.
Von nun an konnte ich meine Gedanken nicht auf irgendeine Arbeit richten. Wenn am Mittag die Schüler in meiner Klasse durcheinandersummten, wenn draußen die Mittagshitze brütete, wenn die laue Brise den süßen Duft der Paternosterblüten ins Zimmer trug, dann wünschte ich mir, – ich weiß nicht, was ich wünschte, aber so viel ist gewiß, daß ich mir nicht wünschte, mein ganzes Leben damit zuzubringen, die grammatischen Aufgaben jener Zukunftshoffnungen Indiens zu verbessern.
Wenn die Schule aus war, konnte ich es in meinem einsamen Hause nicht aushalten; und doch langweilte mich jeglicher Besuch. Wenn ich in der Dämmerung am Teich saß und hörte, wie die Brise seufzend durch die Blätter der Areka- und Kokospalmen strich, dann dachte ich, daß doch die menschliche Gesellschaft ein einziges Gewebe von Fehlern sei; niemand hat Verstand genug, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun, und wenn die Gelegenheit vorbei ist, zermartern wir uns das Herz in vergeblichem Sehnen.
Ich hätte Surabala heiraten und zeitlebens glücklich sein können. Aber ich wollte durchaus ein Garibaldi werden, – und wurde schließlich der zweite Lehrer an einer Landschule! Und der Rechtsanwalt Ram Lotschan Ray, der gar kein Anrecht darauf hatte, Surabalas Gatte zu werden, für den vor seiner Heirat Surabala durchaus nichts anderes bedeutete, als hundert andere Mädchen, hat sie ganz ruhig geheiratet und verdient als Staatsanwalt einen Haufen Geld; wenn ihm das Essen nicht schmeckt, so schilt er Surabala, und wenn er guter Laune ist, schenkt er ihr eine Spange! Er ist glatt und rund, gut gekleidet und frei von jeder Sorge; er bringt nie seinen Abend damit zu, am Teich zu sitzen und seufzend die Sterne anzustarren.
Ram Lotschan wurde in einem wichtigen Rechtsfall auf ein paar Tage aus der Stadt abberufen. Surabala war in ihrem Hause ebenso einsam wie ich in meiner Schule.
Ich erinnere mich, es war an einem Montag. Der Himmel war schon am frühen Morgen mit Wolken bedeckt. Um zehn Uhr setzte ein feiner Sprühregen ein. Bei dem drohenden Himmel hielt unser Direktor es für ratsam, die Schule früh zu schließen. Den ganzen Tag lang liefen dunkle Wolken über den Himmel hin, als ob sie sich zu einem großartigen Schauspiel rüsteten. Am nächsten Tage, gegen Nachmittag, erhob sich ein Sturm, und der Regen kam in Strömen herab. Wie die Nacht vorrückte, wuchs die Wut des Sturmes und des Regens. Zuerst blies der Sturm aus Osten, aber dann wandte er sich und raste nach Süden und Südwesten zu.
Es war nutzlos, zu versuchen, in solch einer Nacht zu schlafen. Ich dachte daran, daß Surabala in diesem furchtbaren Wetter in ihrem Hause allein war. Unsere Schule war viel stärker gebaut, als ihr leichtes Sommerhaus. Immer wieder schickte ich mich an, sie in das Schulhaus herüberzurufen,