Als ich oben ankam, kam gleichzeitig mit mir jemand anders von der entgegengesetzten Seite. Jede Fiber in mir wußte sofort, wer es war, und meine ganze Seele erzitterte in diesem Bewußtsein. Ich zweifelte nicht, daß auch sie mich erkannt hatte.
Auf einer Insel von etwa drei Meilen im Geviert standen wir beide; alles andere um uns her war mit Wasser bedeckt.
Es war eine Zeit der Sintflut; die Sterne am Himmel waren ausgelöscht, und alle Lichter auf Erden waren verschwunden. Wenn wir damals miteinander gesprochen hätten, so wäre es kein Unrecht gewesen. Aber keiner von uns konnte ein Wort finden, keiner von uns fragte auch nur, wie es dem andern ginge. Wir standen da und starrten in die Dunkelheit. Zu unseren Füßen wirbelte der schwarze, wilde, heulende Todesstrom.
Heute hat Surabala die ganze Welt verlassen und ist zu mir gekommen. Heute hat sie niemanden außer mir. In ihrer fernen Kindheit war diese Surabala aus einer andern Welt, aus irgendeinem dunklen, urzeitlichen Reich des Geheimnisses gekommen und hatte im hellen Licht dieser menschenvollen Erde neben mir gestanden, und heute, nach einem langen Zeitraum, hat sie jene Erde verlassen, die so voll ist von Licht und Leben, um in diesem furchtbaren, trostlosen Dunkel, in diesem Todeskampfe der Natur allein an meiner Seite zu sein. Der Strom des Lebens hatte jene zarte Knospe einst mir vor die Füße gespült, und die Flut des Todes hat dieselbe Blume, die jetzt zu voller Blüte sich entfaltet hat, ergriffen und mir zugetragen, mir und niemandem anders! Noch eine Woge, und wir werden von diesem äußersten Rand der Erde, auf dem wir jetzt getrennt sitzen, hinabgefegt und eins werden im Tode.
Möge diese Woge nie kommen! Möge Surabala lange und glücklich in ihrem Heim leben, umgeben von ihrem Gatten, ihren Kindern und Verwandten! Diese eine Nacht, wo ich am Abgrund des Todes gestanden, habe ich ewige Seligkeit gekostet.
Die Nacht ging hin, der Sturm legte sich, die Flut ebbte ab; ohne ein Wort zu sagen, ging Surabala nach Hause zurück, und auch ich kehrte heim zu meinem Schuppen, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Ich saß lange und sann: Es ist wahr, ein Nazir oder oberster Gerichtssekretär oder Garibaldi bin ich nicht geworden; ich bin nur der zweite Lehrer an einer armseligen Landschule. Aber die eine kurze Nacht hat auf den ganzen Weg meines Lebens einen Glanz geworfen.
Von allen Tagen und Nächten, die mir zugeteilt sind, war jene eine Nacht die höchste Erfüllung meines Daseins.
DER SIEG
SIE war die Prinzessin Adschita. Und der Sänger des Königs Narajan hatte sie nie gesehen. Wenn er dem Könige ein neues Lied vortrug, dann erhob er seine Stimme immer genau so weit, daß unsichtbare Hörer hinter den Vorhängen des Balkons hoch oben über der Halle sie vernehmen konnten. Er sandte sein Lied hinauf zu dem fernen Sternenlande, wo der Planet, der sein Schicksal beherrschte, lichtumflossen thronte, unbekannt und unerreichbar seinem Blick.
Bisweilen erspähte er einen Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegte. Oder sein Ohr vernahm einen leisen, fernen Klang, und er träumte von den Fußspangen, deren goldene Glöckchen jeden Schritt mit Gesang begleiteten. Ach, die rosigen zarten Füße, die über den Staub der Erde hinschwebten und ihn segneten wie Gottes Gnade die Sünder! Der Dichter hatte sie auf den Altar seines Herzens gestellt, wo er zum Ton jener goldenen Glocken seine Lieder wob. Niemals stieg ein Zweifel darüber in seiner Seele auf, wessen Schatten es war, der sich hinter dem Vorhang bewegte, und wessen Fußspangen zu dem Takt seines pochenden Herzens erklangen.
Mandschari, das Mädchen der Prinzessin, kam jeden Tag auf ihrem Wege zum Fluß an dem Hause des Dichters vorbei, und sie versäumte nie, verstohlen ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Wenn die Straße leer war und die Dämmerung ihren Schatten über das Land breitete, dann trat sie kühn in sein Zimmer und setzte sich auf eine Ecke seines Teppichs. Und es schien wohl, daß sie mit besonderer Sorgfalt die Farbe ihres Schleiers und die Blume für ihr Haar gewählt hatte.
Die Leute lächelten darüber und flüsterten allerlei, und man konnte sie deswegen nicht tadeln. Denn der Dichter Schekhar gab sich keine Mühe zu verbergen, daß diese Begegnungen eine Quelle reiner Freude für ihn waren.
Ihr Name bedeutete: Blütensträußchen. Jeder muß zugeben, daß dies ein lieblicher Name ist für ein gewöhnliches sterbliches Wesen. Aber Schekhar genügte er noch nicht, und er nannte sie Frühlingsblütensträußchen. Und die gewöhnlichen Sterblichen schüttelten den Kopf und sagten: Ach, du lieber Himmel!
In den Frühlingsliedern, die der Dichter sang, wiederholte sich auffallend oft das Lob der Frühlingsblütensträußchen. Der König lächelte und blinzelte ihn bedeutungsvoll an, wenn er es hörte, und dann lächelte der Dichter auch.
Der König fragte ihn wohl manchmal: „Hat die Biene nichts anderes zu tun, als im Hof des Frühlings umherzusummen?“
Dann antwortete der Dichter: „O doch, sie muß auch den Honig von den Frühlingsblütensträußchen nippen.“
Und alle, die in der Halle des Königs waren, lachten. Und man sagte, auch die Prinzessin Adschita habe gelacht, daß ihr Mädchen den Namen angenommen, den der Dichter ihr gegeben, und Mandschari war heimlich im Herzen froh.
So vermischt sich im Leben Wahrheit und Irrtum – und zu dem, was Gott baut, fügt der Mensch seinen eigenen Zierat.
Nur das, was der Dichter sang, war reine Wahrheit. Er sang von Krischna, dem göttlichen Liebenden, und von Radha, der Geliebten, dem ewig Männlichen und ewig Weiblichen; er sang von dem Leid, das so alt ist wie die Zeit selbst, und von der Freude, die nie enden wird. Und jeder, vom Bettler bis zum König selbst, erprobte die Wahrheit dieser Lieder in seinem innersten Herzen. Die Lieder des Dichters waren auf aller Lippen. Beim fernsten Mondenschimmer und beim leisesten Flüstern der Sommerbrise brachen seine Lieder in zahllosen Stimmen hervor aus Fenstern und Höfen, aus den Segelboten auf dem Fluß und aus den Schatten der Bäume am Wege.
So rannen die Tage glücklich dahin. Der Sänger sang, der König lauschte seinem Lied, und die Zuhörer riefen Beifall. Mandschari kam immer wieder auf ihrem Wege zum Fluß an dem Hause des Dichters vorüber – der Schatten huschte oben hinter dem Vorhang des Balkons, und die goldenen Glöckchen erklangen von fern.
Gerade um dieselbe Zeit verließ ein Sänger sein Heim im Süden, um seinen Triumphzug durch die Länder anzutreten. Er kam ins Königreich Amarapur zum Könige Narajan. Er stand vor dem Thron und sang ein Lied zum Lobe des Königs. Er hatte alle königlichen Sänger auf seinem Wege zum Wettkampf herausgefordert, und überall war er Sieger geblieben.
Der König empfing ihn ehrenvoll und sagte: „Dichter, ich biete dir Willkommen.“
Pundarik, der Dichter, erwiderte stolz: „Majestät, ich bitte um Kampf.“
Schekhar, der Sänger des Königs, wußte nicht, wie der Musenkampf geführt werden sollte. Er konnte in der Nacht nicht schlafen. Immer tauchte vor ihm im Dunkel die mächtige Gestalt des berühmten Pundarik auf mit seinem etwas zur Seite geneigten stolzen Haupt und der wie ein Säbel gekrümmten Nase.
Mit zitterndem Herzen betrat Schekhar am folgenden Morgen die Arena. Das Theater war von der Volksmenge gefüllt.
Der Dichter verbeugte sich mit schüchternem Lächeln vor seinem Nebenbuhler. Pundarik dankte mit stolzem Kopfnicken und wandte dann den Blick mit vielsagendem Lächeln nach dem Kreise seiner ihn begleitenden Verehrer.
Schekhar sah hinauf nach dem verhängten Balkon, und seine Seele grüßte die Geliebte mit dem Worte: Wenn ich heute Sieger bin in diesem Kampf, Geliebte, so soll dein siegreicher