In England erlebte er vorerst doch einen triumphalen Empfang, er wurde vom König zur Audienz geladen und zum Mitglied der Royal Geographical Society ernannt. Bald jedoch schlug die anfängliche Begeisterung in das Gegenteil um, die Kritiker des Forschers gewannen die Oberhand. Allzu fantastisch klangen die Erzählungen des James Bruce. An Kleinigkeiten, wie etwa der Erwähnung des Verzehrs von rohem Rindfleisch durch die Äthiopier, entzündete sich das Feuer des Spotts, das umso höher loderte, je länger Bruce mit der Herausgabe seiner Reiseberichte zögerte. An Kaffeehaustischen wurden die Erlebnisse des Forschers belächelt, und Bruce versäumte es, den Sticheleien durch die Publikation von wissenschaftlichen Artikeln entgegenzutreten.
Manche seiner Kritiker verstiegen sich sogar zu der Behauptung – gestützt auf die angebliche Aussage eines seiner ehemaligen Bediensteten –, dass James Bruce niemals in Äthiopien und bei den Quellen des Nils gewesen sei. Nun, diese Möglichkeit ist allerdings völlig auszuschließen. Denn abgesehen davon, dass einige der Angaben und Beschreibungen Bruce’ später korrigiert bzw. präzisiert werden mussten, kann sich die Nachwelt auf einige eingeborene Zeugen berufen, die mit dem britischen Forscher, mit »Yagoube dem Arzt«, wie sie ihn nannten, während dessen Äthiopienaufenthalts zusammengetroffen waren.
Erst nach dem Tod seiner zweiten Frau machte sich James Bruce an die Niederschriften seiner Reiseaufzeichnungen. Das Werk erschien endlich im Jahre 1790 in Edinburgh, erst siebzehn Jahre nach seiner Rückkehr aus Afrika. Sofortige Übersetzungen ins Deutsche und Französische folgten in Leipzig 1790 und 1791 sowie in Paris 1790 und 1792. Waren es tatsächlich die langjährige Krankheit seiner Frau und die Gerichtsstreitigkeiten um sein Vermögen, die ihn an einer früheren Abfassung hinderten, wie er selbst es behauptete?
Selten hat ein Reisebericht so viele Kontroversen ausgelöst wie das Werk des James Bruce. Obwohl die Bücher für die breite Masse geschrieben wurden und nicht für die Gelehrten seiner Zeit, hat der Autor jedes nur mögliche und ihm halbwegs zugängliche Material in seinem Werk verarbeitet. Zahllos sind die Themenkreise, die er anschneidet. Endlos verbreitet er sich über die Geschichte Äthiopiens – ein nicht hoch genug anzurechnendes Verdienst des Reisenden –, Seite um Seite ist mit Königslisten und Ereignissen während der jeweiligen Regierungszeit gefüllt. Anhand von Dokumenten, die ihm in Gondar zur Verfügung standen und von denen er eine erkleckliche Anzahl selbst mit nach Europa bringen konnte, Originale wie Kopien, erarbeitete er eine minutiöse und noch heute gültige Chronik des christlichen Reiches in Afrika.
Sprunghafte Themenwechsel und eine verwirrende Fülle von Namen und Personen machen das Lesen des Originals zu einer mühseligen Arbeit. Brillante, scharfsinnige Passagen mit starker wissenschaftlicher Aussagekraft wechseln mit oberflächlichen und fehlerhaften Beobachtungen.
Seitenlang setzt sich Bruce mit den Schriften der portugiesischen Jesuiten auseinander, oft unqualifizierte Seitenhiebe austeilend – ein verzweifelter Kampf um die Priorität der Entdeckung »seiner« Nilquellen.
Beim Lesen des höchst egozentrisch abgefassten Werkes entsteht durchaus der Eindruck, als sei Bruce allein durch Äthiopien gezogen. Tatsächlich jedoch reiste er mit zehn von ihm besoldeten Dienern, darunter zwei Irländern, die von einem englischen Regiment in Oran desertiert waren und von denen einer in Gondar ermordet wurde. Der Architekt Balugani starb, wie schon berichtet, am Fieber. Im Vorwort des Originals wird lediglich kurz erwähnt, dass Bruce diese Reisegefährten hatte, im Text kommen sie nicht mehr vor.
Es gelang James Bruce nicht, sich mit seinen Reiseerzählungen zu rehabilitieren und den diversen Anschuldigungen einen Riegel vorzuschieben. Eher das Gegenteil war der Fall, und eine neue Verleumdungskampagne wurde in England gegen den Forscher in Szene gesetzt.
Die Verdienste des James Bruce sind heute dennoch unbestritten, wenn es ihm auch nicht gelungen ist, als erster Europäer an der Quelle des Blauen Nils zu stehen. Die zahllosen Abenteuer und Gefahren, die der wagemutige Forscher auf seiner langen Reise zu bestehen hatte, waren ganz gewiss nicht umsonst.
Frontispiz der ersten deutschen Ausgabe, Leipzig 1790/91
Seine kartografischen Aufnahmen und astronomischen Bestimmungen im Roten Meer, vor allem an der Westseite, an der afrikanischen Küste, waren von bleibendem Wert. Unter anderem bestimmte Bruce als Erster die geografische Länge von Kosseir und Massaua und die Polhöhe von Bab el-Mandeb, der Meerenge zwischen dem Roten Meer und dem Indischen Ozean. Eine Pionierleistung kommt ihm auch durch die genaue Darstellung der Dahlak-Inselgruppe sowie durch die Entdeckung der östlich davon gelegenen Inseln zu, die später als Bruce-Gruppe bezeichnet wurden. Die Genauigkeit seiner Positionsbestimmungen leistete der künftigen Schifffahrt in diesen Gewässern unschätzbare Dienste.
Die Ergebnisse seiner Beobachtungen und Untersuchungen in naturwissenschaftlichen Bereichen – der Botanik und der Zoologie – füllen allein den fünften und letzten Band der Reiseaufzeichnungen, versehen mit akribischen Zeichnungen, die zum Teil auch unserer Bearbeitung beigegeben sind. Graf Buffon, ein führender Naturwissenschaftler dieser Zeit, war begeistert und bezeichnete Bruce’ Arbeiten als epochal.
Die Äthiopienforschung verdankte Bruce eine Fülle von neuem Material, die es erlaubte, die zukünftige Wissenschaft auf eine breitere Basis zu stellen. Seine Untersuchungen und Forschungen auf ethnografischem, kulturwissenschaftlichem und, wie schon erwähnt, vor allem auf historischem Gebiet brachten für die damalige Zeit ganz hervorragende Ergebnisse.
Die Verleumdung und Verteufelung des James Bruce erfolgte ganz gewiss zu Unrecht, wenn auch seinen gelehrten Zeitgenossen vor zweihundert Jahren die Berichte in höchstem Maße fantastisch und skurril, abstrus und unglaubwürdig erschienen. Das Werk des Forschers wurde das Vorbild und die Schablone für eine ganze Anzahl von fiktiven Reiseschilderungen, witzigen und weniger witzigen, die jedenfalls alle dazu beitrugen, ihn als lügnerischen Münchhausen darzustellen und zu persiflieren.
Ein verbitterter James Bruce zog sich auf seine Güter zurück. Seine Rehabilitierung und Anerkennung als seriöser Forscher konnte er nicht mehr erleben.
Erst im Jahre 1832, sechs Jahrzehnte nach Bruce, bereiste der deutsche Forscher Eduard Rüppell Äthiopien und konnte die Berichte des schottischen Edelmanns bestätigen. Zu dieser Zeit war James Bruce schon achtunddreißig Jahre tot. Am 27. April 1794 hatte er sich auf den Stufen seines Hauses in Kinnaird das Genick gebrochen, als er eine Dame, die ihn besucht hatte, zu ihrem Wagen geleiten wollte.
Herbert Gussenbauer
1. KAPITEL
Aufenthalt in Jidda und abenteuerliche Schiffsreise im Roten Meer
Auf dem Landweg reist Bruce von Alexandrien nach Rosette und schifft sich von hier nach Kairo ein. Über fünf Monate verweilt er in den gastfreundlichen Häusern europäischer Kaufleute und bereitet in Ruhe seine große Reise vor. Er besorgt sich Empfehlungsschreiben des türkischen Beis – sowohl Ägypten als auch die Arabische Halbinsel standen zur damaligen Zeit unter türkischer Oberherrschaft – wie auch des griechischen Patriarchen an dessen Landsleute in Äthiopien. Dann mietet sich Bruce eine Canja, eine Nilbarke, auf der er langsam stromaufwärts nach Oberägypten segelt. Die Zeit vergeht mit Untersuchungen, Aufnahmen und dem Zeichnen antiker Stätten und Gräber. Über Theben, Luxor und Karnak hinaus gelangt der Reisende bis Syene, dem heutigen Assuan.
Stromabwärts geht es dann wieder zurück bis Kenne, hier verlässt Bruce seine Barke und das Niltal. Er schließt sich einer Kamelkarawane an, die quer durch die östliche Wüste nach Kosseir zieht, einem Handelshafen am Roten Meer. Es ist ein abenteuerlicher und gefahrvoller