Leontine schloß sie in die Arme.
»Sag Mutter zu mir, Petra. Ich will dir von nun an eine wahre Mutter sein.«
»Ich danke dir, Mutter«, sagte Petra innig und lehnte den Kopf gegen die Schulter der Schwiegermutter.
Schwieriger gestaltete sich das Wiedersehen zwischen Leontine und Lorchen.
»Leonore, willst du mir guten Tag sagen? Hast du die Oma ein bißchen lieb?« Alle Zärtlichkeit, die seit Nikolaus’ warmherzigem Empfang in ihr flutete, ließ sie in ihre Stimme strömen.
Etwas mißtrauisch drehte sich das Kind um und blickte in die feuchten Augen Leontines.
»Bist du gar nicht mehr bös’ zu mir?« fragte es vorsichtig.
Leontine schüttelte den Kopf.
»Nie mehr, Lorchen, ich will dich nur noch liebhaben.«
Da streckte ihr die Kleine vertrauensvoll die Hand entgegen und sagte noch etwas steif:
»Guten Tag, Oma, liebe Oma.«
Da drückte Leontine schnell das Gesicht in das seidige Haar der Kleinen, damit niemand die aufsteigenden Tränen sehen konnte.
*
Nach dem Mittagessen, als Regina Reuter mit dem Kind das Zimmer verlassen hatte, gingen noch einmal die Wogen der Erregung hoch, als Leontine von der Vergangenheit sprach.
Voll Angst drängte sie sich an den Sohn und bat reumütig:
»Helmuth Wendler ist dein Bruder, Nikolaus, denn ihr hattet einen Vater, und er ist ein prachtvoller Junge.«
Nikolaus erholte sich nur langsam von seinem Erstaunen.
»Ich muß ein paar Minuten allein sein«, stieß er hervor. »Das war zuviel auf einmal.«
Er ging hinaus, von drei Augenpaaren verfolgt.
»Habe ich es so richtig gemacht, Beate?« wandte sich Leontine an die Schwägerin, als lange kein Wort fiel.
Beate nickte nur.
Petra erhob sich und machte sich auf die Suche nach Nikolaus. Sie fand ihn, den Kopf in die Hände vergraben, vor dem Bild seines Vaters und sah ihn an.
Er hob den Blick.
»Was grübelst du? Fällt es dir so schwer, ihn als Bruder anzuerkennen?«
»Ein Wunder hat sich an meiner Mutter vollzogen«, preßte er hervor. »Und das alles verdanken wir nur Sprenger. Wie sehr muß er dich geliebt haben, Petra.«
Sie lächelte ihn an. Unsagbar süß und zart leuchtete ihr Gesicht, von innerer Freude verklärt.
»So sehr wie du…«
»Petra!« Er sprang auf, legte beide Arme um sie und sah ihr mit einem unsicheren Blick in die Augen. »Du sagst nicht Jost, du meinst wirklich mich?«
»Ja, Nikolaus. Die letzte Stunde hat mich gelehrt, daß man, ohne den Toten zu vergessen, den Lebenden Freude machen soll. Du mußt mir nur etwas Zeit lassen, hörst du?«
Nikolaus barg sein heißes Gesicht in ihrem Haar. Lange konnte er kein Wort sprechen.
»Ich nehme es als ein Versprechen, Petra. Du hast es mir unter Zeugen gegeben, hier vor den Augen meines Vaters.«
Ihre Augen leuchteten.
»Ich nehme es ernst, Nikolaus, so ernst wie du.«
»Petra!« jubelte er. »Und wenn du mir böse bist, ein einziges Mal muß ich dich küssen.«
Wortlos reichte sie ihm die Lippen, die er zart berührte.
»Es ist ein Glückstag für die ganze Eckhardtsche Familie. Zuerst die Mutter – und nun du, geliebte Frau.«
Um Petras weichen, hingebungsvollen Mund stand ein verträumtes Lächeln.
*
Am Nachmittag waren, wie mit Leontine verabredet, Helmuth Wendler und seine Mutter eingetroffen.
Ein paar Stunden später, als Lorchen bereits im Bett lag, stahl Helmuth sich von der Terrasse, auf der bereits die Lampen brannten, und schritt in den dämmerigen Park hinein.
Irgendwo mußte doch das dunkelhaarige Mädchen sein, an das er immerzu denken mußte. Wie blaß sie ausgesehen hatte! Während sie alle in Harmonie und Glück zusammensaßen, hatte sie bedrückt dabeigestanden. Die Lippen waren herb aufeinandergepreßt gewesen, als sie von Sprengers Tod erfahren hatte.
Vor sich sah er ein helles Kleid durch das Blattwerk schimmern. Ein freudiger Schreck zuckte ihm zum Herzen.
Er beschleunigte seinen Schritt und tauchte etwas atemlos neben ihr auf.
»Sie sind es?« hörte er sie sagen. Es klang, als ob sie enttäuscht wäre.
»Sie wollten allein sein?« forschte er höflich. »Sicher trauern Sie um den Mann, den Sie einmal geliebt haben.«
Reginas Augen hingen erschrocken an seinem Mund.
»Sie sagen sehr richtig, den ich einmal geliebt habe«, sagte sie bitter.
Er seufzte abgrundtief.
»Ob Sie mich auch einmal so sehr lieben könnten?«
»Herr Doktor«, verwies sie ihn entsetzt. »Wie kann man nur so gedankenlos daherreden? An Ihre Mutter denken Sie wohl nicht?«
»Gefällt Ihnen meine Mutter?« fragte er rasch.
»Sehr – man muß sie doch liebhaben.«
»Das haben Sie sehr lieb gesagt. Dafür muß ich Ihnen einen Kuß geben.«
Ehe sie sich wehren konnte, hatte er sich zu ihr geneigt und sie geküßt.
»Herr Doktor…«
»Hat es weh getan?« fragte er scheinheilig.
Sie waren unterdessen in die Nähe der Terrasse gekommen, und Regina machte Miene, davonzulaufen. Er hielt sie jedoch zurück.
»Jetzt gehen wir denselben Weg noch einmal zurück«, bestimmte er. »Ich bin mir noch nicht ganz klar, ob schon alles gesagt worden ist.«
In Regina war auf einmal eine aufkeimende, beseligende Hoffnung. Sie sah zu ihm auf.
Da zog er sie an sich.
»Ich hab’ dich liebgewonnen, kleine tapfere Regina. Meine Mutter meint, ich dürfe nun nicht länger warten, sonst schliddere ich, ehe ich mich’s versehen würde, über die Dreißig und hätte eine Menge Schönes verpaßt.«
Regina sagte kein Wort. Sie lehnte an seiner Brust und ließ sich küssen. Bis ihm ihre Schweigsamkeit auffiel.
»Regina, Liebes – warum sagst du nichts?«
»Glück macht stumm, Helmuth, und ich bin glücklich«, sagte sie innig.
Er führte sie den Weg zurück. Am Fuß der Terrasse ließ er sie los, setzte im Sprung über die Stufen und stand wenige Sekunden später vor Petra.
»Du wirst dich nach einer anderen Kinderpflegerin umsehen müssen, Petra«, lächelte er.
»Warum denn, Helmuth?« Sie sah verwundert zu ihm auf. Er ging ein paar Schritte zurück und half Regina über die letzten Stufen. »Ach, dort ist sie ja…«
Petra verstummte. Ein Blick in die beiden Gesichter sagte ihr genug.
»Wir haben uns nämlich soeben gefunden und uns ewige Treue geschworen«, verkündete Helmuth laut und vernehmlich.
Allgemeines Erstaunen folgte. Nur Tante Beate lächelte stillvergnügt vor sich hin.
Regina wanderte von einem Arm in den anderen, bis Helmuth sich dagegen auflehnte.
»So