Er fand Petra gänzlich verändert und mit blanken, hoffnungsvollen Augen vor.
Ohne Scheu streckte sie ihm die zarte Hand entgegen, die er verlegen an seine Lippen führte.
»Wissen Sie auch, daß ich Ihnen bitter Unrecht getan habe?« fragte sie und versuchte, die Verlegenheit, die zwischen ihnen schwang, zu überbrücken. »Sie sind so gut. Schon daß Leonore Sie für ihren Vater hält, spricht für Sie.«
Gerührt neigte Nikolaus sich etwas vor.
»Wollen wir nicht du zueinander sagen, Petra?«
»Gern«, sagte sie einfach.
Seltsam feierlich und viel ernster als gestern kam ihr Nikolaus vor. So vertraut war er ihr, als kenne sie ihn schon sehr lange.
»Petra«, begann er nach einer ganzen Weile und riß sich gewaltsam von dem feingeschnittenen Antlitz los, das so wechselvoll im Ausdruck war, daß er meinte, die Gedanken stünden ihr auf der Stirn geschrieben.
Erwartungsvoll und voll Vertrauen hob sie den Blick zu ihm auf.
»Du kannst mir alles sagen, Nikolaus. Nichts ist schrecklicher als Ungewißheit.«
»Warst du immer restlos davon überzeugt«, sprach er, sich aufraffend, »daß mein Vater allein deinetwegen Jost fallenließ? Hast du nicht manchmal das Gefühl gehabt, daß
es noch andere Gründe sein könnten?«
»Andere Gründe?« wiederholte sie ungläubig. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe immer angenommen, daß nur ich zwischen Jost und seinen Eltern stand.«
»Glaubst du nicht auch, daß man einen Menschen, den man besonders lieb hat, durch Härte an sich fesseln möchte?«
Petra dachte angestrengt nach. Eine tiefe Falte stand zwischen den feingeschwungenen Brauen.
»Ich kann mich nicht recht in deinen Gedankengang versetzen. Ich weiß nur, daß ich mein Kind niemals fallenlassen könnte. Und wenn es den Weg des Verbrechens betreten würde. Es bliebe in meinem Herzen immer mein geliebtes Kind.«
Ein heller Schimmer stand in Nikolaus’ Augen.
»Siehst du, Petra, nun sprichst du es aus. Tief im Herzen hat mein Vater Jost sehr geliebt und sich heimlich nach ihm gesehnt. Auch die Heirat, die einst so viel Staub und Ärgernis aufwirbelte, hat er ihm verziehen. Leider zog das Schicksal hier einen Strich. Jost sollte es nicht mehr erfahren… «
Ein Zittern lief über Petras schlanke Glieder.
»Du sprichst so seltsam. Hast du etwa Beweise dafür?«
»Ja, die habe ich.« Nikolaus atmete tief und schwer. »Mein Vater ist tot – starb kurz vor Jost an einem Herzschlag. In seinem letzten Willen hat
er sich alles von der Seele geschrieben, was ihn im Leben quälte. Willst du das Schriftstück lesen, fühlst du dich stark genug? Es kann ja auch sein – «
»Ich will alles wissen«, kam es entschlossen aus ihrem Mund.
Sekundenlang lehnte sie sich weit zurück. Sie hörte das Rascheln von Papier und fühlte, wie Nikolaus ihr etwas auf die Bettdecke legte.
»Soll ich dich allein lassen?«
Sie schlug die Augen auf und bat herzlich:
»Bleib, ich könnte dich brauchen.«
Wieder schlug sein Herz laut und ungestüm.
»Also gut. Ich bleibe.«
Er rückte mit seinem Stuhl etwas abseits, doch so, daß er das Gesicht der Kranken im Auge behalten konnte.
Petras schlanke Hände zitterten leicht, als sie das Schriftstück aufnahm.
»Ein Testament…«, murmelte sie, und ihr Blick suchte voll Unruhe Nikolaus. »Ist das nicht zuviel Vertrauen?«
»Nein, Petra, es ist eigens für dich bestimmt, das heißt, eigentlich für Jost, aber du trittst ja nun an Josts Stelle. Bitte, lies.«
Etwas von der Feierlichkeit, die über Nikolaus’ Wesen lag, übertrug sich auch auf Petra. Zuerst erkannte sie die klare, feste Schrift nur sehr schwach, alles verschwamm vor ihren Blicken in der Gemütsbewegung, die sie erfaßt hatte.
Dann wurden ihre Augen groß und weit, und ihr Herz rief leise und sehnsüchtig nach Jost, dem Mann, den diese reuigen Worte des Vaters nicht mehr erreicht hatten.
»Nikolaus!« unterbrach ihr leiser Ruf endlich die lastende Stille.
Zögernd ging Nikolaus zu ihr heran. Petra sah ergriffen aus. Das feine Gesicht war fast durchsichtig blaß
geworden. Ihre grauen Augen waren tief umrändert und nahmen sich unter den langen dunklen Wimpern schwarz und unnatürlich groß aus.
Er nahm die Veränderung wahr und machte sich bittere Vorwürfe.
»Zu spät, Nikolaus, viel zu spät. Jost ist tot! Alle heißen Wünsche, alle Liebe, erwecken ihn nicht mehr.«
Voll Erbarmen neigte sich Nikolaus über das bleiche Gesicht der Kranken.
»Und doch nicht zu spät, um gutzumachen, an dir, an dem Kind«, flüsterte er bewegt.
»Was liegt an mir«, kam es bitter und verzagt zurück.
»Du bist noch jung, so köstlich jung, Petra. Du wirst an ein neues Glück glauben lernen.«
Ein Blick, groß und verachtungsvoll, streifte sein Gesicht, dann drehte Petra den Kopf abwehrend zur Seite.
»Für mich gibt es kein zweites solches Glück. Mein einziges Glück ist Leonore.«
Nikolaus verstand sich selbst nicht mehr. Heimliche Freude durchschoß ihn. Petra hielt seinem Bruder die Treue. Also hatte auch niemals ein anderer Mann eine Rolle in ihrem Leben gespielt.
Mußte er jetzt nicht über Detlef Sprenger sprechen?
»Petra, nimm es mir nicht übel, aber es ist unbedingt notwendig, daß du mir eine Frage beantwortest. Wie stehst du zu Detlef Sprenger?«
Er beobachtete sie scharf, nicht die kleinste Bewegung entging ihm. Er sah die Furcht in den grauen Augen aufspringen, spürte das Beben der ineinandergekrampften Hände, sah das tödliche Erschrecken, und tiefe Traurigkeit überkam ihn. Sah so ein Mensch aus, der sein Gewissen beladen hatte?
»Nikolaus!« Sie griff nach seiner Hand und umklammerte sie haltsuchend. »Schütze mich vor diesem Mann! Ich bitte dich, ich fürchte ihn! Vor Jost habe ich geschwiegen, um Konflikte zu vermeiden. Du bist nicht mit dem Herzen beteiligt, also kann ich vollstes Vertrauen zu dir haben. – Sprenger verfolgte mich mit Liebesanträgen, ich habe ihn nicht nur einmal in die Schranken zurückweisen müssen. – Er hat mich auch hier besuchen wollen, aber ich habe ihn nicht empfangen.«
Nikolaus preßte die Lippen fest aufeinander.
»Du glaubst mir nicht?« Entsetzen flackerte in ihren Augen auf, und matt ließ sie den Kopf in die Kissen zurücksinken. »Du brauchst mir auch nicht zu glauben, Nikolaus, nur schützen sollst du mich vor dem Mann und seiner unseligen Leidenschaft, nur schützen!«
»Ich werde dich zu schützen wissen.« Ungewöhnlich hart klang Nikolaus’ Stimme, und Petra zog fröstelnd die Schultern ein.
»Ich danke dir«, hauchte sie matt. »Mehr verlange ich nicht von dir.«
»Petra, hast du auch ganz aufmerksam das Testament gelesen?«
»Ja, ganz aufmerksam«, bestätigte sie.
Noch ein paar Minuten rang er mit sich, dann hatte er sich bezwungen.
»Gut… ich glaube dir.« Der Ausdruck seines Gesichtes änderte sich, wurde wieder wärmer, die Stimme hatte wieder den gütigen Ton. »Und du wirst auch den Willen unseres Vaters erfüllen?«
Petras Blick irrte im Zimmer umher, unschlüssig wanderten die Hände