Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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ihn von neuem zu belügen. Sie brauchte sich nur umzuwenden, ihn anzusehen, und sie würde am Leben bleiben. Aber sie sah starr in den Spiegel und bedeckte ihren Hals mit den Brillanten.

      Sascha zog das Pistol hervor und spannte den Hahn.

      Sie sah im Spiegel jede seiner Bewegungen; die Kälte und die Schwere durchdrangen jetzt ihren ganzen Körper.

      »Anna!«

      Er trat dicht hinter sie.

      »Schieß nur!« flüsterte sie und nickte ihm zu.

      »Anna! Anna! Anna!«

      Aber sie sagte nichts mehr.

      Da riß er sie an sich, setzte ihr das Pistol auf die Brust, drückte ab.

      Sie blieb an seiner Brust ruhen, blickte ihn an, seufzte und starb. Sascha ließ sie sanft auf den Teppich niedergleiten, stand vor ihr und betrachtete sie.

      Sie war schön, eine wunderschöne Tote!

      Niemand mußte den Schuß gehört haben, niemand kam. Sascha löschte die Lichter, tastete sich zur Tür, schloß auf und entfernte sich langsam.

      Wladimir und Natalia befanden sich unter dem Volk, das sich aufgestellt hatte, um den Zaren in den Palast Petrowsky einfahren zu sehen. Niemand wußte mit Sicherheit zu sagen, ob der Kaiser kommen würde. Man wußte im Volk nicht einmal, ob der Monarch überhaupt in Moskau eingetroffen sei.

      Die Nihilisten wußten es.

      Die beiden hatten sich so aufgestellt, daß sie sowohl den Palast wie das ehemalige Kloster übersehen konnten; sie wollten nur kurze Zeit unter der Menge bleiben und sich sodann, ehe die Straße gesperrt wurde, in das Haus des Popen begeben. Welches Glück, daß als Zeichen zum Aufstiegen der Mine das Zertrümmern einer Scheibe bestimmt worden war; sollte Colja nicht auf der Straße Posten nehmen können, so erreichte er seinen Zweck ebensogut, wenn er sich im Flur des Popenhauses versteckt hielt, wo er das Klirren des brechenden Glases deutlich vernehmen mußte.– – Daß Wera das Zeichen nur nicht früher gab, als bis der Kaiser den Saal betreten! Doch sie hatte die bestimmtesten Instruktionen erhalten, war klug und würde gehorsam sein.

      Wie gut war es, daß die Mine gelegt worden war; wie viel besser, als wenn sie dem Kaiser eine Bombe geworfen hätten. Massenmord war immer sicherer!

      Also sowohl Anna Pawlowna wie Boris Alexeiwitsch glaubten wirklich, daß man nicht wagen würde, etwas Großes zu unternehmen, wähnten wirklich, daß der Nihilismus eine leere Redensart, daß man unentschlossen, furchtsam und feige sei – – – Welche Verachtung des Volksgeistes sprach sich in diesem Glauben aus, welche Verhöhnung einer Sache, der sie doch angehört hatten. Allerdings ließ die Prinzessin Palast und Umgebung einer genauen Untersuchung unterziehen; aber sie hatte sich doch, als man nichts vorfand, vollkommen beruhigt, sich in dem Glauben gewiegt, daß sie nichts unternehmen, daß sie es nicht wagen. Nun, sie sollte an den Nihilismus glauben müssen.

      Die gewaltige Tatsache, daß der Nihilismus kein leerer Wahn sei, hatte Wladimirs und Natalias letztes Gespräch gebildet, als beide sich auf dem Weg nach dem Palast Petrowsky befanden – auf ihrem letzten Gange. Nun schwiegen sie und fühlten sich im Vergleich zu den wütenden Aufregungen der letzten Wochen sehr ruhig. Beide beobachteten sich selbst und beide waren erstaunt, daß man in der letzten Stunde seines Lebens, vor einem Ende, wie es ihnen bevorstand, so gelassen sein konnte.

      Dann kam das Ostergeläut, dann kam der Auferstehungsjubel des Volkes, dann war es Zeit, daß die beiden »Auferstandenen« sich in ihre Gruft begaben.

      »Da steht Wera bereits am Fenster,« flüsterte Natalia Wladimir zu.

      »Die Aufregung wird sie auf ihren Wachtposten treiben, denn es ist ja noch viel zu früh! Noch ist nicht ein einziger Gast da.«

      »Doch; einer ist schon da, einen sehe ich.«

      »Wen?«

      »Boris Alexeiwitsch.«

      »Wo ist er?«

      »Im Saal, dort oben dem Fenster Weras gerade gegenüber.«

      »Was bedeutet das? Er wird sie erkennen! Warum bleibt sie stehen?!«

      »Ich glaube, er hat sie bereits erkannt. Er blickt steif zu ihr hinüber und jetzt – jetzt macht er ihr Zeichen.«

      »Teufel!«

      In diesem Augenblick marschierten Polizisten auf und drängten die Menge zurück. Plötzlich entstand ein Tumult.

      »Was ist geschehen?« rief Wladimir.

      Irgendwer rief einem anderen zu: »Sie haben ihn festgenommen.«

      »Einen Taschendieb?«

      »Einen Nihilisten! Der Kerl wollte unserem Väterchen, dem Zaren, an sein heiliges Leben.«

      Kaum war das bekannt geworden, als das Volk in ein Wutgeheul ausbrach. Alles drängte nach der Stelle hin, wo die Polizisten den Mann, der sich gar nicht zu wehren schien, ergriffen hatten.

      Wladimir und Natalia wurden mit fortgerissen.

      Man schrie in der Menge: »Er hat einen Revolver bei sich! Er wollte den Zaren töten! Schlagt ihn tot, den Hund! Nieder mit dem verdammten Nihilisten! Nieder!«

      Nun sahen Wladimir und Natalia den Gefangenen.

      Es war Sascha.

      Die Polizisten hatten einen dichten Kreis um ihn gebildet und verteidigten ihn gegen das Volk, welches wie rasend war. Ein Trupp Männer brachte ein junges Weib herbei, es war Marja Carlowna! Sie führten die Wirtin im Triumph herbei, denn sie war es, die den Nihilisten entdeckt und ihn der Polizei angegeben hatte.

      Plötzlich ertönten schreckliche Schreie aus dem Palast Petrowsky: »Die Prinzessin ist ermordet worden!«

      Der wahnsinnige Aufschrei eines Weibes folgte diesem Ruf. Dann stürzte Marja Carlowna zu den Polizisten, die Sascha umringten: »Er ist unschuldig! Ich habe ihn fälschlich angeklagt: Laßt ihn frei! Er ist unschuldig, unschuldig – –«

      Sie gebärdete sich wie von Sinnen; aber niemand achtete auf sie; ihr Jammergeschrei verschlangen die Stimmen des erregten Volkes: »Mörder! Mörder! Man hat die Prinzessin gemordet! Man wollte den Zaren morden! Mörder! Mörder!«

      Was war das?

      Die Menge kreischte auf vor Entsetzen und stob auseinander. Ein gewaltiger Krach, dem ein furchtbares Getöse folgte. Sämtliche Fensterscheiben des Palastes und der zunächstliegenden Häuser zersprangen, der Boden bebte, die Mauern schienen zusammenzustürzen, aus dem ersten Stockwerk des Palastes wälzte sich Dampf.

      »Die Nihilisten!«

      Es war wie ein einziger Schrei.

      Ja, die Nihilisten! – Die Mine war aufgeflogen – viel zu früh!

      Achtundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Wieder feierten die Russen das Auferstehungsfest.

      In Moskau dachten einige daran, was in der letzten Osternacht Furchtbares geschehen war; daß die Prinzessin Petrowsky von einem Nihilisten ermordet worden, daß die Nihilisten ein Attentat auf den Kaiser geplant hatten, und daß die Mine zu früh aufgeflogen war – viel zu früh!

      In der ganzen Stadt, im ganzen Lande hatte man deswegen Dankgottesdienste abgehalten, das ganze Land hatte das verfrühte Aufstiegen der Mine gefeiert.

      Wera stellte sich vor, was geschehen wäre, wenn das Attentat geglückt und die Mine zu rechter Zeit aufgeflogen wäre – ein Massenmord!

      So wie es gekommen, hatte das Unglück die kleinsten Dimensionen angenommen. Bei der Nachricht von der Ermordung der Prinzessin war die Dienerschaft, die gerade im Saale beschäftigt gewesen, davongestürzt. Nur einige leichte Verwundungen geschahen, die meisten davon unter dem