Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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Wie ein Mensch so etwas denken kann. Aber wie? Wenn das eine wahr ist, kann auch das andere nicht gelogen sein. Doch wenn Onegin wirklich so wäre, wie Puschkin ihn beschreibt, könnte Tatjana ihn unmöglich lieben. So etwas fühlt man. Der Mensch kann nicht lieben, was nicht von seinem eigenen Selbst ist. Das ist wider die Natur.

      Sie legte ihre kalte Hand an die Stirn.

      »Das ist wider die Natur!« wiederholte sie laut. Dann verlor sie sich von neuem in Grübeleien. Warum hat er wohl damals mit mir sterben wollen, wo er doch schon jetzt nichts mehr von mir weiß? Wenn ich nur das herausfinden könnte. Freilich! Was hätte daraus werden sollen? Sein Weib könnte ich ja doch wohl nicht werden; er hat also ganz recht. Dabei blieben ihre Gedanken stehen. Sein Weib könnte ich ja doch wohl nicht werden. Weiter gelangte sie nicht. Damit suchte sie sich alles begreiflich zu machen, ihn ganz zu entschuldigen. Was hätte daraus werden sollen, da ich ja doch nicht sein Weib werden kann.

      Sie hörte Schritte, die sich der Kammertür näherten und begann heftig zu zittern. Es klopfte. Sie wandte ihr Gesicht der Tür zu und rief mit Anstrengung: »Herein!«

      Es war Wladimir. Er mußte getrunken haben, sein Gesicht war gerötet, die Augen hatten einen fahlen Glanz.

      Er sah Weras Unwillen, brach in ein Gelächter aus und rief mit schwerer Zunge: »Was tust du hier oben so allein? Geh hinunter.«

      »Was soll ich unten.«

      »Dich ansehen lassen. Ich habe dir schon einmal gesagt – –«

      »Und ich erwidere dir noch einmal, daß ich dich nicht hören will.«

      »Hoho! Sprichst du so mit mir?«

      »Ich will dich nicht hören.«

      Er trat ihr näher.

      »Du sollst ihn ja nicht lieben, du sollst ihn sogar hassen dürfen, wie Sascha Anna Pawlowna haßt. Erst wenn ihr sie haßt, werdet ihr der Sache dienen können.«

      »War das deine Absicht?«

      »Von jeher. Begreifst du endlich?«

      »Ich begreife, daß du ein fürchterlicher Mensch bist.«

      Wladimir zuckte die Achseln: »Das will in unserer Zeit nicht viel sagen. Übrigens habe ich mit dir zu reden.«

      Er sah sich im Zimmer um; sein Blick fiel auf das Muttergottesbild und die Blumen. Über das aufgeschlagene Buch hatte Wera, als sie klopfen hörte, ein Tuch geworfen.

      »Ich bin sehr unzufrieden mit dir,« begann Wladimir, »du dienst der Sache sehr schlecht, vielmehr: du dienst ihr gar nicht. Das muß anders werden! Was bedeutet es zum Beispiel, daß du, die Nihilistin, ein Heiligenbild hast?«

      Er wollte es vom Tische herunterreißen, aber Wera streckte schützend die Hände davor.

      »Wage nicht es anzurühren! Dieses Bild ist mein und mein ist meine Seele, an der du auch Gewalt üben willst. Ich sage dir: Auch an meine Seele lasse ich nicht rühren! überhaupt – wenn ich nur erst begreifen könnte, was ihr bezweckt. Alles ist für die Sache, immer ist es die Sache! Und die Sache soll ja wohl das Volk sein! es ist die Sache des Volkes, welche wir führen. Sobald aber alles nur des Volkes wegen geschieht, aus Liebe zum Volk, aus blutigem Mitleid mit dem Volk – welch ein Wahnsinn ergreift euch, daß ihr im heiligen Namen des Volkes Verbrechen über Verbrechen begeht. Zeigt mir die Steine und den Mörtel, womit ihr das neue Haus aufrichten wollt, nachdem ihr das alte eingerissen. Ich sehe nur Einsturz und Zerstörung, Zerstörung überall!«

      Und sie schlug jammernd die Hände zusammen, ließ sie aber wie gelähmt sinken, als Wladimir ihr höhnend zurief: »Du sagtest, du ließest nicht an deine Seele rühren. Deine Seele ist ja in Boris Alexeiwitsch Händen wie in des Satans Klauen, mit deiner Seele lässest du ja spielen wie mit einem Ball. Die lässest du dir ja zermalmen und zerquetschen. Du nicht an dich rühren lassen? Du bist ja seine Leibeigene geworden an jedem Gliede. Und das ist gut, das gefällt mir! Das ist das einzige, was mir noch an dir gefällt; nur möchte ich, daß dabei ein Gewinn für die Sache herauskäme. Aber du, von der ich so viel für uns gehofft, was tust du? Nichts! Was tut Sascha? Nichts! Was werdet ihr tun? Nichts! Sascha hätte aus Anna Pawlowna machen können, was er gewollt; ein blindes Werkzeug für unsere Sache. Jetzt ist es zu spät, jetzt kann er nichts mehr, denn jetzt verabscheut sie ihn. Du könntest Boris Alexeiwitsch zum Sklaven unserer Sache machen – – Was hast du?«

      Wera stand wie betäubt. Sie murmelte: »Keinen Gott, keine Liebe, keine Tugend; nichts, nichts, nichts! Der Mensch kein Mensch mehr. Und dafür wollte ich meinen Hals auf das Schafott legen. Dafür?«

      »Bist du toll geworben?« schrie Wladimir sie an und schüttelte sie.

      Sie aber, ohne noch ein Wort zu reden, machte ihm ein Zeichen, sie allein zu lassen. Und er ließ sie allein.

      Wera schob hinter ihm den Riegel vor, stand und lauschte, bis sie seinen Schritt nicht mehr vernahm. Dann fiel sie mit einem Schrei nieder und lag am Boden wie ohne Bewußtsein. Endlich erhob sie sich; sie hatte einen Entschluß gefaßt. Sie wollte fort, gleich jetzt, wie sie ging und stand, ohne sich zu besinnen, ohne zu denken. Das Denken konnte sie um den Verstand bringen.

      Aber sie stand mitten im Zimmer und regte sich nicht.

      Sie wollte nie mehr wiederkommen – natürlich nicht! Sie wollte wieder nach Eskowo zurück, dort die Kinder kämmen und sie in dem unterrichten, wovon sie selbst nichts wußte.

      Es fiel ihr auch ein, wie jung sie immer noch war, wie lange es noch dauern konnte, dieses lebendige Todsein, von dem sie ihre Seele von neuem ergriffen fühlte.

      Aber fort! Schnell fort!

      Langsam bewegte sie sich der Tür zu. Sie hörte nicht den leisen Schritt im Gange, sie hörte nicht, wie jemand vor der Kammer stehenblieb.

      »Boris!«

      Sie hatte geöffnet und sah ihn vor sich. Er wollte reden; aber mit einer Gebärde unbeschreiblichen Entsetzens streckte sie ihm abwehrend beide Hände entgegen und wich vor ihm in die Kammer zurück, bis in die hinterste Ecke, wo sie hinsank, immerfort die Arme gegen ihn erhoben.

      »Wera!«

      Mit welchem Ton er das sagte, mit welchem Blick.

      »Vergib mir.«

      Und er ging auf sie zu.

      Sie wollte auffahren, sie wollte rufen: »Rühre mich nicht an!« Aber sie konnte weder reden noch sich bewegen; auch dann nicht, als er ihre Arme sanft niederdrückte und die hilflose Gestalt zu sich aufzog, an seine Brust.

      Er küßte sie auf den Mund.

      Sie litt es. Ihre Lippen waren kalt und sie schauderte zusammen.

      Fünfzehntes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Wieder war er bei ihr, droben in ihrer Kammer. Lange hatten sie geschwiegen; das langweilte ihn endlich und er begann: »Sage mir eines deiner Volkslieder her. Du hast nämlich eine wunderbare Stimme, eine solche Weichheit darin und zugleich solche Kraft.«

      »Das findest nur du,« entgegnete ihm Wera erglühend.

      »Du meinst, weil ich in dich verliebt bin?«

      »Weil du mich liebst,« verbesserte sie und sah ihn voll an. »Und ich liebe dich,« fügte sie mit einer Feierlichkeit hinzu, als ob sie das Sakrament nähme. »Und hast mir so lange widerstrebt?«

      Dabei legte er seinen Arm um sie.

      »Du weißt ja,« begann sie leise und stockte.

      »Daß du ein eigentümliches Geschöpf bist? Ja, das weiß ich, das hast du mich gelehrt.«

      Wera senkte die Augen.

      »Ich bin sehr glücklich!« flüsterte sie, schwieg, sagte dann mit einem Beben in der Stimme: »Und du? Bist auch du glücklich?