Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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wählen können. Denn Wera, die sich als Kind ablehnend gegen Saschas Märchen verhalten hatte, lauschte jetzt mit der Leidenschaft eines Kindes den Erzählungen des russischen Meisters. Sie hörte das »Tagebuch eines Jägers«, die »Frühlingsfluten«, »Faust« und »Rauch«; zuletzt gar nicht mehr in der Wirklichkeit lebend, so daß sie zuzeiten ihr eigenes Dasein vollkommen vergaß.

      Erwachte sie dann aus diesem Traumleben, so war der Jammer groß. Blaß und verstört ging sie umher, sah Menschen und Dinge mit erstaunten, fremden Augen an, wußte nicht, was mit dem Leben beginnen. Es war ein Glück, daß Boris sie scharf bewachte und stets mit einem neuen Betäubungsmittel zur Hand war. Er bezweckte bei dieser Methode, Wera davon abzuhalten, über sich selbst nachzugrübeln. So ward sie allmählich ihrer eigenen Seele entfremdet.

      Niemals sprach er mit Anna Pawlowna über sie. Überhaupt hatte sich zwischen ihm und seiner Cousine ein seltsames Verhältnis herausgebildet, das besonders stark in Saschas Anwesenheit hervortrat. Bisher hatten die beiden Verwandten nichts Gemeinsames gehabt; das war nun anders geworden. Sie empfanden auf einmal, daß sie zusammengehörten, daß sie durch ein unlösliches Band miteinander verbunden waren, weniger durch ihre Bluts- als vielmehr durch ihre Standesverwandtschaft. Sie entdeckten, daß sie vielfach nicht nur dieselben Ansichten, sondern auch dieselben Neigungen hatten; zwar vermieden sie es, beisammen zu sein, doch ihre Blicke begegneten sich zuweilen mit einem sonderbaren Ausdruck. Saschas Name wurde niemals zwischen ihnen genannt. Boris haßte den Bauernsohn, ein Gefühl, das von diesem aufrichtig erwidert wurde. Gar zu gern hätte der elegante Edelmann den plumpen und groben Plebejer lächerlich gefunden und in den Augen seiner schönen Cousine lächerlich gemacht. Aber in Saschas Haltung, seinem Benehmen, seinem Blick, selbst in dem Klange seiner Stimme lag seit kurzem etwas, das dem blasierten, hochmütigen Herrn unwillkürlich Respekt einflößte.

      Anna Pawlowna beobachtete die beiden kaltblütig, aber mit einer gewissen Neugier. Was wird aus der Geschichte werden? Wie wird sie sich dabei benehmen? Wird er seinen Zweck erreichen? Natürlich! Wann wohl? Sehr bald! Und dann – was wird dann? Vielleicht tötet sie sich (wenn sie nicht ihn tötet) und er – – Er fällt in eine andere Passion. Wer wird die nächste sein? Eigentlich ist es doch erbärmlich. – Aber sie tat nichts, um Wera über Boris aufzuklären. Zuweilen fuhr es ihr freilich durch den Sinn: Ich sollte dieses Mädchen retten. Sie nahm sich vor, mit Wera oder mit Boris zu reden; doch es blieb bei der Absicht. Sie hatte zu viel mit sich selbst zu tun, um sich um andere kümmern zu können. Und schließlich – – War sie etwa weniger stolz gewesen als Wera? Und schließlich war auch sie geworden, was andere waren.

      Dennoch hatte diese seltsame Frau Stunden, wo sie sich zu überreden suchte, daß sie Sascha immer noch liebe; Stunden, wo sie sich zu belügen vermochte, wo sie die Lüge glaubte. Dann sah sie in ihm, in seiner Leidenschaft für sie, in ihrer Liebe zu ihm ihre einzige Hoffnung, ihr Heil und ihre Rettung. Dann schickte sie nach ihm, dann ging sie in der Nacht ihm entgegen, schlich sich mit ihm ins Haus, demütigte sich vor ihm, klagte sich bei ihm an, bat ihn um Verzeihung, um Erbarmen, überschüttete ihn mit leidenschaftlichen Liebkosungen, zwang ihn durch ihre Liebesgewalt, machte ihn selig, trunken, halb von Sinnen; ihn und sich selbst.

      Solchen Stunden der Raserei folgten Tage der Entrüstung, der Verzweiflung, der Ermattung.

      Einmal kam sie für einige Zeit nach Moskau, bezog ihren Palast, ließ alle Gemächer öffnen, empfing ihren Liebhaber am hellen Tage, vor aller Augen, fuhr mit ihm aus, gebot der Dienerschaft, ihm zu begegnen, als ob er der Prinz wäre.

      Sie ist toll, dachte Boris und zuckte die Achseln.

      Indessen allmählich bereitete sich in dem Verhältnis Anna Pawlownas die Katastrophe vor.

      Sie hatte ihn lange nicht gesehen, lange nicht, weder nach ihm geschickt noch an ihn geschrieben; sie beabsichtigte Gäste einzuladen und ließ es ihn wissen – – durch ihre Kammerfrau! Diese Person sagte ihm, daß es jetzt der Prinzessin unmöglich sei, ihm zu begegnen, daß er auch nicht schreiben sollte, daß er sich gedulden möchte. Und Sascha »geduldete« sich.

      Er hatte nichts in Moskau zu tun; denn selbst die Dynamitfabrikation mußte fürs erste eingestellt werden. Er war ruhelos. Seine Wirtin Marja Carlowna war seine erklärte Feindin geworden und gönnte ihm kein Wort und keinen Blick. Sie sah elend aus, als ob sie krank wäre; Sascha scheute sich vor ihr. Er beschäftigte sich mit nichts, rührte kein Buch an und mied seine Gesinnungsgenossen wie und wo er nur konnte. Selbst die »Sache« war ihm gleichgültig geworden. Stundenlang schlenderte er in Moskau umher, in den Straßen, durch die er einmal mit der Prinzessin gefahren war; stundenlang stand er vor ihrem Palast, den er einmal mit ihr bewohnt hatte und blickte zu den verschlossenen Fenstern auf, bis er mit einem tiefen Seufzer zur Besinnung kam. Dann lief er fort. Er besuchte Teeschenken und öffentliche berüchtigte Lokale, in denen er bald eine bekannte Persönlichkeit ward; doch ließ er sich mit niemandem in ein Gespräch ein.

      Jeden Tag begab er sich zu Wladimir, oder vielmehr zu Colja, mit dem er große Freundschaft schloß. Die beiden hatten einander nichts zu sagen, aber sie verstanden sich. Tania behandelte er mit scheuer Ehrfurcht, als wäre sie ein lebendig gewordenes Heiligenbild; mit Natalia Arkadiewna hätte er gar zu gern über die Prinzessin gesprochen, wagte es indessen nicht, da Natalia ihm mit tiefster Nichtachtung begegnete, was ihn sehr betrübte. Wladimir wich er aus, denn er fürchtete dessen abscheuliche Weise zu lächeln, ohne jedoch noch daran zu denken, ihn um seines Lächelns willen erwürgen zu wollen. Wladimir übrigens war auch so mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß er Sascha gar nicht beachtete.

      Einmal besuchte dieser sogar die Fürstin, die ihn aus Neugier zwar empfing, ihn aber äußerst geringschätzig behandelte, so daß er sich voller Zorn und Scham entfernte. Manchen Tag verließ er sein Zimmer gar nicht, blieb im Bett liegen, trank fortwährend Tee, der stark mit Rum vermischt war, und führte leidenschaftliche Gespräche mit Anna Pawlowna. Das setzte er so lange fort, bis er in ein dumpfes Hinbrüten und schließlich in eine völlige Betäubung verfiel. Plötzlich konnte er sich aufraffen, hastig seine Kleider anziehen und hinaus nach dem Bahnhof stürzen, ganz gleich, ob es Mittag oder Mitternacht war. Ging gerade kein Zug nach Kunzewo ab, so lief er den weiten Weg dahin zu Fuß. Unterwegs dachte er sich aus, wie er Anna Pawlowna entgegentreten, was er ihr sagen, auf welche Weise er sich ihr gegenüber benehmen wollte. Er studierte seine Rede Wort für Wort ein. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, seine Pulse schlugen rasch und unregelmäßig, und je näher er Kunzewo kam, desto mehr nahm sein Fieber zu. Er fühlte, wie seinem Gedächtnisse jedes Wort entschwand, wie seine Gedanken sich verwirrten. Erblickte er endlich ihr Haus, so verließ ihn jede Fassung. Er blieb stehen, überlegte, ob er nicht umkehren sollte. Einigemal tat er dies auch wirklich; kehrte wirklich wieder zurück – um am nächsten Tage von neuem unterwegs zu sein. Oder er umschlich das Haus, in der Hoffnung, eine Gelegenheit zu erspähen, um ungesehen in ihr Zimmer zu schlüpfen. Vielleicht auch, daß Anna Pawlowna im Park spazierenging und er ihr begegnen konnte. Fand er den Mut, das Haus zu betreten, so bildete er sich ein, daß die Diener ihm ins Gesicht lachten und hinter seinem Rücken Grimassen schnitten. Da jedoch Anna Pawlowna ihrer ganzen Dienerschaft auf das strengste befohlen hatte, ihm mit größter Ehrerbietung zu begegnen, so wagte niemand eine andere Miene als die der größten Dienstfertigkeit zu zeigen, was ihn bei seiner Stimmung vollständig zu Boden drückte. Allein schon das Zeremoniell des Anmeldens verursachte ihm ein unangenehmes Gefühl; die französische Einrichtung der Zimmer, die herrlichen Bilder, die hohen Spiegel, die Samt- und Seidenmöbel brachten ihn immer von neuem in Verwirrung. Das Parfüm, welches das ganze Haus durchdrang, versetzte ihm den Atem. Jetzt erst begann er als echter Nihilist den Luxus und Reichtum zu hassen, jetzt erst wünschte er den ungeheuren Besitz der einzelnen aufgehoben, in seinem Herzen Anna Pawlowna einen schweren Vorwurf machend, daß sie ihre Schätze noch nicht von sich geworfen hatte.

      Es kam vor, daß sie ihn warten ließ – antichambrieren! Das ging über seine Begriffe. Früher hatte sie ihn tagelang vor ihrer Tür stehen lassen können und er hätte es ganz natürlich gefunden.

      Ließ sie ihn dann eintreten in ihr kleines Kabinett, das ein Nest von Gold und Atlas war, mit Blumen gefüllt, von Wohlgerüchen duftend, so bemächtigte sich seiner jedesmal eine fast wilde Erregung. Er hätte sie am liebsten mit sich fortgeführt, mit sich fortgerissen aus dieser Pracht. Und sie selbst in