Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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      »Ach nein, mein Mütterchen schüttelt zu allem nur den Kopf und bricht in Tränen aus; und Anuschka wird zornig. Nein, ich frage Natalia Arkadiewna, die deutet mir alles. Sie ist eine großartige Seele.«

      »Das ist sie.«

      »Wenn man bedenkt, daß sie, wie der Heiland in der Legende, alles mit dem Volke teilt, muß man staunen. Sie ist ein erhabenes Beispiel. Täten alle wie sie, so würde es bald auf der Welt gar kein Elend mehr geben.«

      Freilich würden dann wohl alle schmutzige Kragen und Manschetten haben, mußte er denken, und kam sich bei diesem Gedanken so schlecht vor, daß er sich vor sich selbst schämte.

      Grischa wäre an der Seite Weras am liebsten in die weite Welt hineingewandert; aber seine Begleiterin mahnte zur Rückkehr. Der Himmel war so strahlend, die Erde so frühlingsgrün und blütenbedeckt, hoch in den Lüften jubilierten Lerchen, so triumphierend, daß die beiden jungen Menschen den Jammer des Lebens, womit sie ihre Seelen ganz erfüllen wollten, wohl oder übel vergessen mußten. Sie plauderten wie alte Bekannte, und Grischa zeigte Wera aus der Ferne den Sumpf, wo sich im Umkreis von fünfzig Werst die beste Schnepfenjagd befand. Eines Morgens hatte er mit Hilfe seines Karo – im Umkreis von fünfzig Werst gab es keinen besseren Hund – von diesen Vögeln sechzehn Stück erlegt. Und wie schön in der Morgendämmerung am Rande des Waldes zu stehen, wenn es in der Natur so lautlos und feierlich war wie in der Kirche. Der Himmel mit ausgelöschten Sternen blaß und klar, im Osten mit einem orangefarbenen Streif, welcher wuchs und wuchs. Das hohe Gras so schwer mit Tau getränkt, daß es tief herabhing und der Tritt des Jägers eine dunkle Fährte zurückließ; die jungen Blätter zitternd in der kühlen Morgenluft.

      Die Flinte in der Hand, wartet der Jäger; jede Bewegung des Hundes beobachtend und so gespannt lauschend, daß er hört, wie hinter ihm ein verwelktes Blatt, das am Stamm überwintert hat, von dem jungen Triebe verdrängt, zur Erde fällt. Jetzt wird es immer lichter, die Flammen des Morgenrotes lodern hoch auf, der ganze östliche Himmel steht in Glut. Auf der schwarzen Fläche des Sumpfes liegt es glühend wie der Widerschein eines Brandes. Da, ein scharfer, knarrender Laut – die Schnepfe! Ein Krach, der Hund stürzt sich ins Röhricht. Karo, apport! So geht es, bis die Jagdtasche gefüllt ist, bis die betaute Wiese im Sonnenglanz funkelt wie ein Diamantenfeld.

      Und in seinem Entzücken über die Freuden der Jagd vergaß Grischa gänzlich sein Vorhaben, nie mehr gebratene Schnepfen zu essen.

      Sie hatten sich so verspätet, daß Grischas Mütterchen sich bereits ängstigte, und Anuschka in vollem Zorn den Kuchen hatte anbrennen lassen, den sie, eigentlich ganz gegen ihren Willen, für die Gäste gebacken. Der Teetisch stand unter den Fliederbäumen gedeckt und war über und über mit Weras Blumen geschmückt. Das Mütterchen trippelte den beiden aufgeregt entgegen, in großem Jammer über den verbrannten Kuchen und in heller Freude über Weras Blumen.

      »Wo habt ihr denn nur gesteckt? Denkt euch, Natalia Arkadiewna ist im Stalle und predigt den Mägden. Alle sind hingelaufen, Anuschka sitzt ganz allein in der Küche. Wenn das unser Pope erfährt. Was aber auch den Menschen alles einfällt? Wer hätte das in meiner Jugend gedacht? Ihr werdet bald verhungert sein, aber wir können doch nicht frühstücken ohne Natalia Arkadiewna. Vielleicht holt sie einer von euch?«

      Grischa wollte sogleich gehen, doch Wera bat ihn, bei seinem Mütterchen zu bleiben, und so blieb er. Sie begab sich in den Stall, wo sich ihr der wunderbarste Anblick bot: Mägde, Knechte, Bauernweiber mit ihren Kindern, um ein umgestülptes Branntweinfaß geschart, darauf die Nihilistin wie auf einer Kanzel stand und mit leidenschaftlichen Gebärden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit predigte. Dabei bediente sie sich der dem Volke verständlichsten Sprache der Gleichnisse und Bilder. Wera erkannte die Wirkung der Predigt an den wilden, erregten Gesichtern der Männer; die Weiber dagegen waren sehr gerührt und schluchzten. Einer der Lautesten war der Kutscher Mischka.

      Beim Eintreten Weras deutete Natalia Arkadiewna auf sie und rief: »Seht, meine Brüder und Schwestern: Diese ist auch eine von jenen, welche um eurer Leiden willen sich verschworen hat, eure Unterdrücker von der russischen Erde fortzutilgen. Sie wird euretwillen ihre Hände in das Blut eurer Feinde tauchen; sie wird euretwillen über die Leichname eurer Tyrannen hinwegschreiten. Küsset diese Hände, diese Füße! Siehe dort, russisches Volk, deine Märtyrerin, deine Heilige.«

      Und zum Entsetzen Weras stürzten die Weiber auf sie zu und küßten trotz ihrer heftigen Abwehr, ihre Hände und ihr Gewand. Sie wollte reden, aber die Stimme versagte ihr. Denn ihr fiel ein, wie sie vom höchsten Glücke sich beseeligt gefühlt hatte, als damals, in der Nacht ihrer Ankunft in Moskau, die Ihren sie so tumultuarisch begrüßten. Bei der fanatischen Huldigung dieser Menschen aber, denen sie soeben als Mörderin und Totschlägerin bezeichnet worden, ergriff sie Abscheu. Sollten diese Verbrechen wirklich von ihr gefordert werden, so hätte sie dieselben vielleicht begehen müssen; aber nicht preisen sollte man sie um solcher Taten willen. Möglich, daß der politische Mord eine Notwendigkeit war – das wußte sie nicht anders, das glaubte sie den Ihren – für sie blieb es immerhin ein Mord. Freilich hatte sie noch vor kurzem selbst den politischen Mord als eine verdienstvolle Sache bezeichnet. Was war seitdem mit ihr vorgegangen?

      Und Wera kam sich so schuldbeladen vor, als hätte sie an der Sache des Volks einen Verrat begangen.

      In der gedrücktesten Stimmung kehrte sie mit der Volksrednerin nach dem Hause zurück, sich fürchtend, nach dem Erlebten dem Mütterchen unter die milden Augen zu treten und einem der leuchtenden Blicke Grischas zu begegnen. Natalia Arkadiewna dagegen hatte der im Stalle gehabte Erfolg in eine Begeisterung versetzt, daß sie wie neubelebt neben Wera herging, indem sie fortfuhr, den Nihilismus als die alleinseligmachende Religion der Völker zu verkünden. Sie mäßigte ihre Ergüsse auch nicht, als sie sich der Fliederlaube näherten, und rief dem Hausherrn schon von weitem zu: »Dieses Mal habe ich Ihre Leute in einer Weise mit der Sache bekannt gemacht, daß dem Volk die Augen aufgegangen sind. Das Volk muß das Sehen lernen, wie ein Kind das Gehen. Das Volk wird sich wundern, was es nach und nach zu erblicken bekommt. Es soll die Augen aufreißen. Schade, daß Sie vorhin nicht dabei waren! Ihr Kutscher Mischka ist ein Prachtkerl. Und wie er mich verstanden hat. An dem werden Sie noch Wunder erleben.«

      »Er war der Beste von meinen Leuten,« meinte Grischa und sah zu Boden. »Wir sind von Kind an zusammen gewesen und haben miteinander gespielt. Ich habe ihn lieb. Es sollte mir leid tun – verzeihen Sie, daß ich es Ihnen sage – aber wirklich, Natalia Arkadiewna, es würde mich schmerzen, wenn Sie den Mischka gegen mich aufreizen sollten. Ich hoffe, daß er auch für mich etwas Zuneigung fühlt, denn ich bin stets gütig gegen ihn gewesen.«

      Es war die längste Rede, die Grischa jemals in einem Atem gehalten. Sie war ihm auch schwer genug geworden; aber er dachte: Wera Iwanowna soll erfahren, daß ich noch immer in meinem Hause Herr bin. Also redete er in Gottes Namen und bereitete dadurch seinem Mütterchen die Freude, gleich am frühen Morgen gerührt sein zu können und von ihrem schneeweißen, mit selbstgeklöppelten Spitzen besetzten Taschentuch reichlichen Gebrauch machen zu dürfen. Aber dann fiel ihr der Kuchen ein und daß derselbe heute außergewöhnlich gut geraten, worüber sie sich so von Herzen freuen mußte, daß sie beim besten Willen nicht vermochte, von Herzen gerührt zu sein.

      Natalia Arkadiewna war von Grischas Rede weniger erbaut, sie meinte dazu: »Sie stehen noch nicht auf der Höhe der Situation, sonst würden Sie gerade von denjenigen, die Sie in Ihr Herz geschlossen haben, wünschen müssen, daß dieselben Ihnen in vollständiger Freiheit und Gleichheit gegenüberständen, aller Vorurteile des Standes los und ledig. Ich hoffe übrigens, Ihren Kutscher gegen Ihren Willen so weit zu entwickeln, wie es mir für seine zukünftige soziale Stellung das Rechte zu sein scheint.«

      Man setzte sich; Natalia Arkadiewna aber erst, nachdem sie rings um ihren Platz alle Blumen entfernt hatte. Weras Blumen! dachte Grischa mit stillem Ingrimm. Das Mütterchen wollte den Tee bereiten, doch Wera tat es für sie, und das Mütterchen ließ es für sich tun, in Grischas Leben ein unerhörtes Ereignis, das Wera als durchaus selbstverständlich mit großer Ruhe hinnahm und das den guten Grischa vollständig fassungslos machte. Daß sein Mütterchen sich sozusagen das Zepter aus den Händen nehmen ließ und einer anderen übertrug, das mußte im Staate Dawidkowo etwas Großes