Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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die kleine weiße, fette Hand über die Augen legte: »Ein wunderhübsches Täubchen!«

      »Aber Mütterchen!« sagte Grischa vorwurfsvoll. Er war noch tiefer errötet als Wera.

      »Schon gut, schon gut! Ich schweige schon. Zank' nur nicht wieder mit deinem Mütterchen,« rief sie weinerlich und setzte sich an ihren Platz, der Amme gegenüber, die Wera böse und feindselig anstarrte.

      »Aber nun wollen wir essen,« rief Natalia Arkadiewna heiter. »Ich sterbe vor Hunger. Anuschka, bitte, reichen Sie mir die Grütze. Nein, danke. Ich nehme keinen Rahm dazu.«

      »Das weiß man,« murrte Anuschka. »Sie halten es für eine Sünde, Rahm zur Grütze zu nehmen, weil die Bauern sie ohne Rahm essen. Wer hat so was erlebt?! Von meinen Spiegeleiern können Sie nehmen – Spiegeleier essen die Bauern. Aber von den Schnepfen dürfen Sie keinen Bissen anrühren – gebratene Schnepfen sind giftig. Und Grischa darf auch keine Schnepfen essen, das wäre eine Sünde. Vielleicht erlauben Sie ihm Spiegeleier und Grütze: Grütze ohne Rahm. Grischa, he, Grischa! Nimm die Grütze, mein Söhnchen, Grütze ohne Rahm, ohne Rahm – –«

      Und Anuschka begann heftig zu schluchzen.

      Um sie zu besänftigen, nahm Grischa Rahm zur Grütze. Als er Wera bat, ihm die Schüssel zu reichen, vermied er es, sie anzusehen, denn er schämte sich. Es war aber auch zu dumm, über Grütze ohne Rahm ein solches Geschrei zu erheben. Was sie denken mußte! Und sein Mütterchen hatte sie vorhin auch so schwer beleidigt. Grischa war mit seinem Mütterchen, mit Anuschka und mit sich selbst recht unzufrieden. Dabei war er doch so glücklich, daß er am liebsten vom Tische aufgestanden wäre um sogleich zu tun, was Natalia Arkadiewna seit einem halben Jahr unaufhörlich von ihm verlangte, sein halbes Gut an die Bauern zu verschenken. Sein Mütterchen hatte recht, Wera war wunderhübsch! In seiner Angst vor Anuschka aß er inzwischen, was ihm unter die Hände kam: Grütze und Spiegeleier, Barsche und Schnepfen, ein Vorgehen, welches Anuschka mit der Menschheit – Natalia Arkadiewna und die »Neue« ausgenommen – wieder versöhnte. Das Mütterchen war zu aufgeregt, um etwas genießen zu können; alle Augenblicke legte sie die Hand über die Augen und sah zu Wera hinüber.

      Zum zweitenmal seit zehn Minuten dachte diese: Er ist wirklich ein Prachtmensch! Seiner Amme zuliebe ißt er Grütze mit Rahm. Das täte kein anderer.

      Natalia Arkadiewna rührte von all den Leckerbissen, die auf dem Tische standen, wirklich nur die Grütze und das grobe Brot an. Sie konnte es gar nicht vertragen, wollte aber dennoch von dem feinen Weizenbrote, das eigens für sie gebacken worden war, nichts nehmen.

      Dann begann das Mütterchen ihr altes Thema, wobei Anuschka tapfer sekundierte: »Nun, wie steht's in dem Sündenpfuhl?« – Damit meinte sie Moskau. – »Hat es dort noch immer nicht Pech und Schwefel geregnet? Ich begreif's nicht! Wie man mir sagt, soll man jetzt dort ein Licht brennen, so hell wie die Sonne. Welche Sünde!«

      Sie meinte das Gas, welches Beleuchtungsmaterial ihr so sündhaft vorkam, daß sie sich bei jeder Erwähnung desselben bekreuzigte und segnete. In ihrem Hause wurde nur Öl gebrannt, von ihr selbst aus Mohn destilliert.

      Überhaupt begriff das Mütterchen die neue Zeit nicht. Ihr Sohn hatte seine Bauern freigegeben. Was sollte das heißen? Ihren Bauern ging es gut, so gut, daß sie ihre Grütze recht gut ebenfalls mit Rahm essen konnten. Aber sie sollten es noch besser haben! Nun, sie war es zufrieden. Grischa würde es ja wissen; wenn nur Grischa zufrieden war. Das konnte er aber nicht eher sein, als bis er sich eine Frau genommen. Aber woher die Frau nehmen? Aus Moskau eine holen, aus dem Sündenpfuhl, das hätte sie niemals zugegeben. Mit den Nachbarn unterhielten sie keinen Verkehr; die Nachbarn brannten Petroleum, spielten Klavier, ließen sich ihre Kleider in Moskau arbeiten, tranken Wein und aßen Eierpiroggen, die sie »Omelettes« nannten. Einige sollten sogar Französisch sprechen, statt Russisch! Nein! Aus der Nachbarschaft durfte ihr Grischa sich auch keine Frau nehmen. Und da das Mütterchen nicht wollte, so wollte auch Grischa nicht.

      In anderem hatte er seinen eigenen Kopf; zum Beispiel, seinen Bauern gegenüber. Auch fand er allerlei an der heiligen Religion auszusetzen, ging nur einmal des Jahres, zu Ostern, in die Kirche und wollte den Popen nicht mehr an seinem Tisch haben.

      Die Gottlosigkeit ihres Grischa war seines Mütterchens größter Kummer auf Erden. Sie hatte über diesen Punkt mit Anuschka endlose Unterredungen, wobei Ströme von Tränen vergossen wurden und mit Seufzern eine wahre Verschwendung getrieben ward. Die beiden Alten beteten manche halbe Nacht durch für ihren Grischa, taten für ihren Grischa die heiligsten Gelübde, ja, sie hatten sogar eine weite und beschwerliche Wallfahrt gelobt für ihren Grischa.

      Auch die Bekanntschaft Grischas mit Natalia Arkadiewna verursachte in Dawidkowo viel Herzeleid. Eines Tages war sie daselbst erschienen, mit Schmutz bedeckt, vollständig ermattet, halbtot. Sie ruhte sich bei dem Mütterchen aus, aß eine warme Suppe, und wollte weiter. Doch ihre Kräfte versagten. So blieb sie denn. Einen Tag, zwei Tage und länger. Grischa konnte sie zuerst nicht leiden, der Brille und des kurzen Haares wegen. Auch hatte sie schmutzige Manschetten und Kragen. Er ging ihr aus dem Weg und pfiff, wenn er sie sah. Aber einmal redete sie ihn an und er mußte zuhören. Und er hörte ihr zu, eine ganze Stunde lang, erwiderte aber kein Wort. Dann verließ Natalia Arkadiewna Dawidkowo, und das Mütterchen und Anuschka mußten immerfort die Köpfe schütteln und seufzen, was das nur mit ihrem Grischa war? Er machte sich förmlich Gedanken! Sogar Anuschkas weit und breit berühmte Speckkuchen schmeckten ihm nicht mehr. Es war ein rechtes Elend! Da, eines Samstags, war Natalia Arkadiewna wieder da und Grischa lief ihr entgegen und fragte in großer Aufregung, ob sie das Bewußte mitgebracht habe?

      Sie hatte es natürlich mitgebracht. Deshalb war sie ja nur gekommen, von Moskau! Sie verabschiedete sich gleich wieder, weil sie heute noch nach Pokrowskoje müßte, einem Dorf, welches von Dawidkowo acht Werst entfernt lag. Grischa wollte sie hinfahren lassen, aber sie wollte zu Fuß gehen. Und sie ging.

      Während der ganzen nächsten Woche beschäftigten sich das Mütterchen und Anuschka hauptsächlich damit, daß sie die Hände über dem Kopf zusammenschlugen: ihr Grischa las! Und wie las er! Hochrot im Gesicht. Wenn man ihn anredete, wurde er zornig, Grischa zornig auf sein Mütterchen! Er las Tag und Nacht. Die beiden Frauen wollten schon zum Arzt schicken, als zum Glück Natalia Arkadiewna wieder auf den Hof kam – Zum Glück! Denn Grischa empfing sie mit heller Freude. Sie führten lange Gespräche miteinander, die Grischas Stimmittel vollständig erschöpften. Natalia Arkadiewna blieb eine ganze Woche, während welcher das Mütterchen sie herzlich liebgewann. Als sie dann wieder in die Telega stieg, um sich von Mischka nach Moskau fahren zu lassen, mußte sie Grischa und dem Mütterchen das feierliche Versprechen geben, sie jeden Samstag zu besuchen; jeden Samstagabend sollte der hübsche, muntere Mischka mit seinen hübschen, munteren Braunen in Moskau an dem Dorogomilow-Schlag auf sie warten.

      Und so war alles gekommen.

      Das Mütterchen Mascha Minitschna verstand nichts davon; aber – so war eben alles gekommen.

      Dreiundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Die Heiligen mochten wissen, wie es zuging, daß das Mütterchen an alle diese Dinge denken mußte, während sie in ihrem sauberen, behaglichen Speisezimmer, an ihrem mit buntem Sonntagslinnen gedeckten Tische saß, das Wasser im Samowar kochen und Anuschka seufzen hörte, bald ihren Grischa ansah, wie der es sich schmecken ließ, bald Wera Iwanowna, wie die so ernsthaft, schön und sauber dasaß. Schließlich war alles recht gut gekommen, und wenn es noch besser käme – –

      Das Mütterchen wurde immer aufgeregter, fing an zu scherzen und zu schwatzen, fragte Wera nach diesem und nach jenem, wo sie her sei, ob ihre Eltern noch lebten, wer ihre Eltern gewesen? Begierig horchte sie und wurde ganz zornig über die kargen Antworten, die sie bekam. Sie hielt es nicht länger am Tische aus, stand auf und ließ sich von Grischa hinüber ins Wohnzimmer führen.

      Dort war es wunderhübsch! An den Fenstern die herrlichsten roten Vorhänge aus Wolle, an den Wänden die bunteste, lustigste Tapete, mit den buntesten lustigsten