»Die Kleider sind schon gepackt. Wie schön wäre es, wenn du sie als deine Aussteuer betrachten und dich mit einem netten Mann vermählen würdest, statt diese unsinnige Stellung auf Vox Castle anzutreten, die dir und uns nur schaden kann, wenn man dahinterkommt.«
Sie hielt erschöpft inne und fuhr nach einer Weile fort: »Kannst du dir vorstellen, was die Leute sagen würden, wenn herauskäme, daß Georges Nichte als gewöhnliche Gouvernante tätig ist?«
»Es könnte seinem Ansehen in seinen Clubs ein wenig schaden«, spöttelte Marisa.
»Laß diese Scherze!« sagte die Gräfin unwillig. »Geh jetzt nach oben und zieh das blaue Reisekostüm an, das Rose für dich zurechtgelegt hat! Ich weiß nicht, warum, aber in Schwarz siehst du mit deinem feuerroten Haar wie eine Dirne aus.«
»Ich hätte es vielleicht doch färben sollen«, meinte Marisa.
»Verschwinde, bevor ich die Fassung verliere!«
Marisa zog sich um. Das saphirblaue Reisekostüm mit passendem Cape und der kleine Hut verliehen ihr trotz des strengen Knotens, zu dem sie ihr rotes Haar bändigte, keineswegs das Aussehen einer gewöhnlichen Gouvernante, wie Lady Berrington sich ausdrückte.
Ihre Tante musterte sie mißbilligend, als sie sich von ihr verabschiedete.
»Dein Glück, daß es auf Vox Castle keine Herrin gibt«, bemerkte sie. »Sie würde sich weigern, dich als Erzieherin ihres Kindes in ihrem Haus zu dulden.«
»Vielleicht fällt dem Herzog gar nicht auf, daß eine Neue da ist«, meinte Marisa leichthin.
»Vermutlich wird er gar nicht anwesend sein«, entgegnete Lady Berrington. »Im Augenblick ist er vollauf damit beschäftigt, Lady Wantage den Hof zu machen, obwohl ich nicht begreifen kann, was er an dieser dummen, ständig kichernden Person findet.«
»Lady Wantage«, wiederholte Marisa nachdenklich. »Ist sie nicht eine dieser professionellen Schönheiten«, welche die Titelblätter der Magazine schmücken?«
»Ich habe für solche Frauen nichts übrig, und für Hetty Wantage schon gar nicht«, erklärte ihre Tante verächtlich.
»Nun, wenn der Herzog gefühlsmäßig gebunden ist, brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen, daß er mir nachstellen könnte.«
Lady Berrington lachte.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Valerius sich dazu herablassen würde, einer Gouvernante nachzustellen? Falls du dir Vox Castle nur ausgesucht hast, um den reichsten, bedeutendsten und begehrtesten Junggesellen einzufangen, den die Gesellschaft vorzuweisen hat, Marisa, dann wirst du bitter enttäuscht werden.«
»Ich habe keineswegs die Absicht, den Duke einzufangen, wie du es nennst«, erwiderte Marisa. »Du scheinst mir einfach nicht glauben zu wollen, Tante Kitty, daß Männer mich nicht im geringsten interessieren. Ich habe nicht die Absicht, jemals zu heiraten.«
»Du würdest deine Meinung rasch ändern, wenn du verliebt wärst«, sagte Kitty Berrington weise. »Doch mit deinen radikalen Ansichten wirst du wohl niemals einen anständigen Mann finden, der sich in dich verliebt.«
»Dann bin ich ja vor ihnen sicher«, stellte Marisa lächelnd fest. »Die Liebe hat in meinen Zukunftsplänen nämlich keinen Platz. Falls ich ein Herz habe, dann ist es zu einem Eisberg erstarrt, und es müßte schon ein Vulkan ausbrechen, um es zum Schmelzen zu bringen. Doch dazu wäre wohl kein Mann fähig.«
»Dann gleichst du in dieser Hinsicht jedenfalls nicht deiner Mutter«, bemerkte Lady Berrington.
»In dieser Hinsicht sicher nicht«, pflichtete Marisa ihr bei.
Während sie sich dieses Gespräch ins Gedächtnis zurückrief und draußen die Landschaft vor den Fenstern des Zuges vorbeiflog, stellte sie fest, wie typisch es für ihre Tante und deren Freundinnen war, sich mit nichts anderem zu beschäftigen als mit der Liebe und damit, Männern nachzustellen. Etwas anderes hatten sie nicht im Sinn.
Marisa hatte von Mrs. Featherstonehaugh erfahren, daß diese Leute die Liebe wie ein Spiel betrieben, das nach bestimmten Regeln ablief.
Der Prinz und seine Anhänger hätten zum Beispiel niemals einer jungverheirateten Frau den Hof gemacht. Das galt als ausgesprochen geschmacklos und hätte Aufsehen erregt und Ablehnung geweckt. Die jungen Ehefrauen der »Marlborough House Clique« hatten sich entsprechend zu verhalten und ihren Gatten Kinder zu gebären, die sie zumindest die ersten zehn Jahre ihrer Ehe beschäftigten. Danach pflegten sich die Damen in diskrete Liebesaffären einzulassen, welche die Ehegatten oft sogar tolerierten.
Der Herzog würde sich gewiß an diese ungeschriebenen Regeln halten. Marisa wußte nicht genau, wie alt Lady Wantage war, vermutlich war sie Mitte Dreißig. Die Abbildungen, die von ihr im Umlauf waren, zeigten ein hübsches, aber etwas fades Puppengesicht, wie Marisa sich erinnerte. Sie war entschlossen, alle Einzelheiten der Affären des Herzogs in Erfahrung zu bringen,, um ihn in ihrem Buch gründlich bloßstellen zu können.
Obgleich Diskretion in diesen Kreisen oberstes Gebot war, gab es immer jemanden, der bereit war, seine intimen Kenntnisse über das Liebesleben prominenter Persönlichkeiten auszuplaudern.
Marisa mußte unwillkürlich lächeln, als sie an den Stapel beschriebener Bögen dachte, der sich ganz unten in ihrer großen ledernen Reisetasche befand. Sie war verschlossen und würde nicht wie die Koffer, die ihre Tante ihr überlassen hatte, von irgendwelchen Dienstboten ausgepackt werden.
Der Zug hatte die private Haltestelle von Vox Castle beinahe erreicht, als sie zum ersten Mal an das Kind dachte, das sie unterrichten sollte. Der ständige Wechsel der Gouvernanten hatte sich sicher nicht gerade vorteilhaft auf den Wissensstand des kleinen Mädchens ausgewirkt, überlegte Marisa. Sie würde dafür sorgen, daß man ihr die besten Lehrbücher besorgte, die zu bekommen waren.
Eine geschlossene Kutsche, die von einem prachtvollen Gespann gezogen wurde, erwartete sie an der kleinen Haltestation mit dem winzigen, aber komfortablen Warteraum. Außer dem Kutscher befand sich ein Lakai auf dem Kutschbock. Marisa ließ sich aufatmend in die weichen Polster des Gefährts sinken und stellte mit Genugtuung fest, daß sich zumindest der Einzug der Gouvernante auf Schloß Vox stilgerecht vollziehen würde.
Gleichzeitig aber war ihr klargeworden, daß sie in der gewiß sehr zahlreichen Dienerschaft nur eine unbedeutende Position einnehmen würde.
Der Anblick von Vox Castle war atemberaubend. Neben einem riesigen normannischen Turm ragten unzählige Dächer, Kamine und Türmchen in den wolkenlosen Himmel und ließen das Schloß wie ein kostbares Juwel erscheinen.
Steinterrassen und gepflegte Rasenflächen führten zu einem See, der von einem mit zahlreichen Brücken überspannten Fluß gespeist wurde.
Hunderte von Fensterscheiben glänzten in der Sonne, das Ganze war so schön und majestätisch, daß Marisa den Anblick wie gebannt auf sich wirken ließ.
Der Gedanke, daß dieses zauberhafte Schloß dem Mann gehörte, den sie haßte, erfüllte sie mit Bedauern, denn er würde ganz gewiß die Schönheit seines Besitzes nicht zu schätzen wissen.
Oben an der Freitreppe, die zu einem mit Säulen gesäumten Portal führte, wurde sie von einem ältlichen Butler begrüßt, der einen der Lakaien anwies, Marisa zu begleiten.
»Miss Whitcham erwartet Sie, Miss Mitton«, teilte der Butler ihr in väterlichem Ton mit, den er gewiß nicht angeschlagen hätte, wäre sie unter ihrem richtigen Namen in Vox Castle erschienen.
Sie lächelte bei dem Gedanken vor sich hin und folgte dem Diener.
»Hatten Sie eine gute Reise, Miss?« erkundigte sich der Lakai freundlich. »Vermutlich sind Sie Erster Klasse gereist, wie? Wer sich’s leisten kann, gut und schön. Ich für meine Person finde keinen Gefallen an den harten Sitzen und dem Schmutz, der durch alle Ritzen dringt, so daß man am Ende der Reise wie ein Schornsteinfeger aussieht.«
»Man spricht davon, daß Verbesserungen geplant sind«, erwiderte Marisa.