»Sei nicht albern!« wies Lady Berrington sie zurecht. »Gefärbtes Haar erkennt man immer, und es würde nur noch mehr Mißtrauen hervorrufen. Nein, mir fällt niemand ein, der . . .«
Sie unterbrach sich plötzlich.
»Da kommt mir ein Gedanke«, fuhr sie fort, »aber nein, das ist unmöglich!«
»Warum?« wollte Marisa wissen.
»Weil du dich schon gar nicht für Valerius’ Tochter, die nicht ganz richtig im Kopf sein soll, als Erzieherin eignen würdest.«
»Valerius!« wiederholte Marisa mit belegter Stimme. »Meinst du den Herzog von Milverley?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Lady Berrington. »Wir waren vor zwei Wochen auf Schloß Vox, und irgendjemand erzählte mir, niemand würde mit dem Kind zurechtkommen. Das Mädchen ist erst neun oder zehn Jahre alt und hat schon Dutzende von Gouvernanten vergrault. Keine hielt es bei dem Kind aus.«
»Was geschah mit der Herzogin?«
»Sie ist tot«, erwiderte die Gräfin. »Eine neurotische Person war das. Sie starb nach der Geburt des Kindes. Valerius und sie paßten überhaupt nicht zusammen.«
»Warum haben sie dann geheiratet?« fragte Marisa.
»Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete die Gräfin. »Als junger Mann war der Herzog unsterblich in die schöne, herrschsüchtige Gräfin de Grey verliebt. Sie war grausam zu ihm, weil sie damals einen viel älteren Mann liebte.«
»Der natürlich nicht ihr Gatte war«, bemerkte Marisa spöttisch.
»Natürlich nicht. Dann wurde der Herzog schließlich dazu überredet, um die Hand der Tochter des Marquis von Dorset anzuhalten, einer hysterischen Person, die ihn wohl ebenso ablehnte wie er sie.«
Mit gedämpfter Stimme fuhr die Gräfin fort: »Man erzählte sich die tollsten Geschichten von ihren Streitereien und Auseinandersetzungen. Sie pflegte mitten in einer Party aufzustehen und davonzulaufen, wenn er irgendetwas gesagt hatte, was ihr nicht paßte. Jedenfalls war ihr Tod eine große Erleichterung für alle, aber offenbar gerät das Kind nach ihr.«
»Hast du das Mädchen nicht gesehen, als du auf dem Schloß warst?« fragte Marisa.
»Valerius hat sie in meiner Gegenwart nicht ein einziges Mal erwähnt«, erwiderte die Gräfin, »und ich habe auf einem solchen Fest weiß Gott Besseres zu tun, als mich in Kinderzimmern herumzudrücken.«
»Wie wär’s, wenn du mich dem Herzog als Erzieherin empfehlen würdest?«
»Ich würde mich nicht an ihn direkt wenden«, erklärte Lady Berrington.
»Alle Regelungen im Haushalt werden von Miss Whitcham, der langjährigen Sekretärin des Herzogs, getroffen, die schon seiner Mutter gedient hat.«
»Dann schreib ihr«, drängte Marisa. »Schließlich hast du nichts zu verlieren. Wenn sie solche Schwierigkeiten mit den bisherigen Erzieherinnen hatten, sind sie vielleicht froh, zur Abwechslung mal eine vernünftige Person zu finden!«
»Vernünftig!« rief Lady Berrington aus. »Wenn du dich für vernünftig hältst, Marisa, dann mußt du blind und taub sein. Doch wenn man dich tatsächlich einstellt, wirst du bald merken, was für ein stumpfsinniges Leben das ist, sich mit dem ungezogenen Kind anderer Leute herumzuplagen.«
»Du schreibst also und empfiehlst mich?« fragte Marisa,
»Du wirst schon sehen, was du davon hast«, erwiderte Lady Berrington scharf.
»Dann tu’s gleich«, drängte Marisa. »Schreib den Empfehlungsbrief, Tante Kitty, dann bist du mich los. Onkel George kannst du ja erzählen, ich wäre zu einer Freundin nach Nordengland gereist, falls ihm meine Abwesenheit überhaupt auffällt.«
»Dein Onkel George hat dich immer sehr gern gehabt«, sagte Lady Berrington, aber es klang nicht sehr überzeugend. Sie setzte sich an ihr Schreibpult und legte sich Feder und Briefbogen zurecht.
»Welche besonderen Fähigkeiten soll ich anführen?« fragte sie.
»Ich spreche Französisch und Italienisch«, erwiderte Marisa» »kann Latein lesen und Klavier spielen.«
»Vermutlich genügt das für ein neunjähriges Kind. Ich war schon immer der Meinung, daß es ein Fehler ist, Mädchen zu viel Wissen beizubringen«, erklärte Lady Berrington verächtlich. »Meine werden jedenfalls nur das Nötigste lernen. Wenn es etwas gibt, das einen Mann abschreckt, so sind es kluge Frauen.«
»Das kann mir nur recht sein«, warf Marisa ein.
Ihre Tante betrachtete sie nachdenklich, wie sie am Fenster stand. Ihr leuchtendrotes Haar glänzte in der Sonne. Ihre Haut war hell, und ihre Augen wirkten übergroß in dem zarten Gesicht. Doch der Hut, den sie trug, war altmodisch, ebenso das Kleid aus billigem Serge, dessen Schnitt sehr unvorteilhaft schien.
»Du brauchst neue Garderobe, wenn du nach Vox gehst«, bemerkte sie in einem Anflug von schlechtem Gewissen. »Als Gouvernante mußt du das Kind gelegentlich in den Festsaal begleiten. Auf keinen Fall solltest du schwarze Kleidung tragen. Bei deiner Haarfarbe und deiner Haut wäre das viel zu auffallend. Ich hingegen werde noch mindestens neun Monate Schwarz tragen müssen. George besteht darauf. Das bedeutet, daß all die hübschen Sachen, die ich mir vor dem Todesfall gekauft habe, aus der Mode sein werden, wenn ich sie tragen kann. Ich schenke sie dir, Marisa. Wir haben ungefähr die gleiche Größe.«
Ein Lächeln erhellte Marisas Gesicht.
»Ist das dein Ernst, Tante Kitty? Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Abgesehen davon, daß mir die Mittel fehlen, hasse ich es, stundenlang anprobieren zu müssen und mich mit Stecknadeln pieken zu lassen.«
»Dein Fehler ist, Marisa, daß du keine weiblichen Eigenschaften besitzt«, tadelte ihre Tante. »Frauen sollten schöne Kleider mögen, gern auf Bälle gehen und sich nach dem Mann fürs Leben sehnen, statt Bücher zu schreiben.«
»Wer kann schon über seinen Schatten springen?« entgegnete Marisa lachend. »Papa hat mich geprägt, und wenn das der Verwandtschaft nicht paßt, so hat sie sich das selbst zuzuschreiben. Als Papa vor zwei Monaten starb, war es nach zwei Jahren das erste Mal, daß sich die Verwandtschaft bei uns blicken ließ.«
»Wessen Schuld war das denn?« fragte Lady Berrington aufgebracht. »Wenn wir deinem Vater einen Brief schrieben, bekamen wir entweder überhaupt keine Antwort oder eine rüde Absage.«
»Trotzdem war er oft sehr einsam!« sagte Marisa nachdenklich. »Er hätte seinen Bruder gern wiedergesehen und gespürt, daß er auch anderen Menschen außer mir etwas bedeutete.«
»Nun, daran können wir jetzt nichts mehr ändern«, meinte Lady Berrington achselzuckend. »Hier ist das Schreiben, Marisa, und gnade uns Gott, wenn du mich blamierst.«
»Das werde ich bestimmt nicht«, versprach Marisa. »Vielmehr könnte ich mir vorstellen, daß ich eine ziemlich gute Erzieherin abgebe und vielleicht diesem bedauernswerten Geschöpf, das niemand zu mögen scheint, einiges beibringen kann.«
»Das habe ich nicht behauptet!« wehrte Lady Berrington ab. »Ich habe nur gesagt, daß der Herzog seine Tochter nicht erwähnt hat. Trotzdem kann er sie doch gern haben. Er ist viel mit dem Prinzen zusammen, und Seine Königliche Hoheit ist Kindern sehr zugetan. Wie du weißt, ist er der Pate unserer kleinen Emily.«
Lady Berrington nahm eine der Fotografien vom Piano und zeigte sie Marisa.
»Das ist Emily«, sagte sie. »Ist sie nicht groß geworden?«
Marisa betrachtete die übliche steife Aufnahme eines kleinen Mädchens, das sonntäglich gekleidet starr in die Kamera schaute. Sie fragte sich, ob diese leicht hervorstehenden Augen und die etwas aufgeworfenen Lippen nicht auf eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Thronfolger hinwiesen. Die abfälligen Bemerkungen ihres Vaters, die er über das auffallende Interesse des Prinzen an seiner attraktiven Schwägerin gemacht hatte, waren ihr noch gut im