»Nun, wer bin ich?« fragte er.
Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm zu gleicher Zeit meine Hand entgegen; er nahm sie, lächelte und sagte: »Ah, wir werden uns jetzt langsam erholen.« Dann legte er mich nieder, wandte sich zu Bessie, empfahl ihr, sehr vorsichtig zu sein und mich während der Nacht nicht zu stören. Nachdem er noch weitere Weisungen erteilt und gesagt hatte, dass er am folgenden Tage wiederkommen würde, ging er fort; zu meiner größten Betrübnis; während er auf dem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß, fühlte ich mich so beschützt, so sicher, und als die Tür sich hinter ihm schloss, wurde das ganze Zimmer dunkel und mein Herz verzagte von neuem, es unterlag der Last eines unbeschreiblichen Grams.
»Glauben Sie, dass Sie schlafen können, Miss?« fragte Bessie mich ungewöhnlich sanft.
Kaum wagte ich, ihr zu antworten, denn ich fürchtete, dass ihre nächsten Worte wieder rau klingen würden. »Ich will es versuchen«, sagte ich leise.
»Möchten Sie nicht irgend etwas essen oder trinken?«
»Nein, ich danke, Bessie.«
»Nun, dann werde ich auch schlafen gehen, denn es ist schon nach Mitternacht; aber Sie können mich rufen, wenn Sie während der Nacht irgend etwas brauchen.«
Welche seltene Höflichkeit! Sie ermutigte mich, eine Frage zu stellen.
»Bessie, was ist denn mit mir geschehen? Bin ich sehr krank?«
»Ich vermute, dass Sie vor Schreien im roten Zimmer krank geworden sind; aber Sie werden ohne Zweifel bald wieder ganz gesund sein.«
Bessie ging in das anstoßende Zimmer der Hausmädchen. Ich hörte, wie sie dort sagte:
»Sarah, komm und schlaf bei mir in der Kinderstube, und wenn es mein Leben gälte, so könnte ich diese Nacht nicht mit dem armen Kinde allein bleiben; es könnte sterben! Wie sonderbar, dass Miss Jane einen solchen Anfall haben musste! Ich möchte doch wissen, ob sie irgend etwas gesehen hat. Mrs. Reed war dieses Mal aber auch zu hart gegen sie.«
Sarah kam mit ihr zurück; beide gingen zu Bett; sie flüsterten wenigstens noch eine halbe Stunde miteinander, bevor sie einschliefen. Ich hörte einige Bruchstücke ihrer Unterhaltung, und aus diesen schloss ich auf den Hauptgegenstand ihrer Diskussion.
»Etwas ist an ihr vorübergeschwebt, ganz in Weiß gekleidet, dann ist es verschwunden.« – – »Ein großer, schwarzer Hund hinter ihm.« – »Dreimal hat es laut an der Zimmertür geklopft.« – »Ein Licht auf dem Friedhofe gerade über seinem Grabe« – u.s.w., u.s.w.
Endlich schliefen beide ein. Feuer und Licht erloschen. In schaurigem Wachen ging die Nacht für mich langsam hin; Entsetzen und Angst hielten Ohren, Augen und Sinne wach. – Entsetzen und Angst, wie nur Kinder es zu empfinden imstande sind.
Diesem Zwischenfall im roten Zimmer folgte keine lange, ernste, körperliche Krankheit; nur eine heftige Erschütterung meiner Nerven, deren Widerhall ich noch bis auf den heutigen Tag empfinde. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich gar manchen qualvollen Schmerz der Seele. Aber ich sollte Ihnen verzeihen, denn Sie wussten nicht, was Sie taten, während Sie jede Faser meines Herzens zerrissen, glaubten Sie nur meine bösen Neigungen und Anlagen zu ersticken.
Am nächsten Tage gegen Mittag war ich bereits aufgestanden und angekleidet und saß in einen warmen Shawl gehüllt vor dem Kaminfeuer. Ich fühlte mich körperlich schwach und gebrochen, aber mein schlimmstes Übel war ein unaussprechlicher Jammer der Seele, ein Jammer, der mir fortwährend stille Tränen entlockte, kaum hatte ich einen salzigen Tropfen von meiner Wange getrocknet, als auch schon ein anderer folgte. Und doch meinte ich, dass ich augenblicklich glücklich sein müsste, denn keiner von den Reeds war da, alle waren mit ihrer Mama im großen Wagen spazieren gefahren; auch Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und während Bessie hin und her ging, Spielsachen forträumte und Schiebladen ordnete, richtete sie dann und wann ein ungewöhnlich freundliches Wort an mich. Diese Lage der Dinge wäre für mich ein Paradies des Friedens gewesen, für mich, die ich nur an ein Dasein voll unaufhörlichen Tadels und grausame Sklaverei gewöhnt war, – aber in der Tat waren meine Nerven jetzt in einem solchen Zustande, dass keine Ruhe sie mehr sänftigen, kein Vergnügen sie mehr freudig erregen konnte.
Bessie war unten in der Küche gewesen und brachte mir jetzt einen Kuchen herauf, der auf einem gewissen, bunt gemalten Porzellanteller lag, dessen Paradiesvogel, welcher sich auf einem Kranz von Maiglöckchen und Rosenknospen schaukelte, stets eine enthusiastische Bewunderung in mir wach gerufen hatte. Gar oft hatte ich innig gebeten, diesen Teller in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn genauer betrachten zu können, bis jetzt hatte man mich aber stets einer solchen Gunst für unwürdig gehalten. Jetzt stellte man mir nun diesen kostbaren Teller auf den Schoß und bat mich freundlich, das Stückchen auserlesenen Gebäcks, welches auf demselben lag, zu essen. Eitle Gunst! Sie kam zu spät, wie so manche andere, die so innig erwünscht, und so lange versagt worden war! Ich konnte den Kuchen nicht essen, und das Gefieder des Vogels, die Farben der Blumen schienen mir seltsam verblasst – ich schob sowohl Teller wie Gebäck von mir. Bessie fragte mich, ob ich ein Buch haben wolle. Das Wort Buch wirkte wie ein vorübergehendes Reizmittel, und ich bat sie, mir »Gullivers Reisen« aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich schon unzählige Male mit Entzücken gelesen; ich hielt es für eine Erzählung von Tatsachen und entdeckte in ihm eine Ader, die ein weit tieferes Interesse für mich hatte, als dasjenige, welches ich in Märchen gefunden hatte; denn nachdem ich die Elfen vergebens unter den Blättern des Fingerhuts und der Glockenblume, unter Pilzen und altem, von Epheu umrankten Gemäuer gesucht, hatte ich mein Gemüt mit der traurigen Wahrheit ausgesöhnt, dass sie alle England verlassen hätten, um in ein unbekanntes Land zu gehen, wo die Wälder noch stiller und wilder und dicker, die Menschen noch spärlicher gesäet seien. Liliput hingegen und Brobdignag waren nach meinem Glauben solide Bestandteile der Erdoberfläche; ich zweifelte gar nicht, dass, wenn ich eines Tages eine weite Reise machen könnte, ich mit meinen eigenen Augen die kleinen Felder und Häuser, die winzigen Menschen, die zierlichen Kühe, Schafe und Vögel des einen Königreichs sehen würde, und ebenso die baumhohen Kornfelder, die mächtigen Bullenbeißer, die Katzen-Ungeheuer, die turmhohen Männer und Frauen des anderen. Und doch, als ich den geliebten Band jetzt in Händen hielt – als ich die Seiten umblätterte und in den wundersamen Bildern den Reiz suchte, welchen sie mir bis jetzt stets gewährt hatten – da war alles alt und trübselig; die Riesen