»Wenn ich das tue – aber Sie wissen es ja besser: warum sollte ich mit Ihnen streiten?« sagte Alfred lachend.
»Ich weiß gar nichts Derartiges«, erwiderte der Doktor. »Was meinst Du dazu, Marion?«
Marion, mit ihrer Tasse spielend, schien zu sagen – aber sie sagte es nicht – daß er sie nur immer vergessen möge, wenn er es könne. Grace schmiegte ihr schönes Gesicht an Marions Wangen und lächelte.
»Ich bin, wie ich hoffe, nicht ein sehr ungerechter Verwalter des mir anvertrauten Gutes gewesen«, sprach der Doktor weiter: »aber jedenfalls muß ich heute meines Amtes offiziell enthoben und aus ihm entlassen werden; und hier sind unsere guten Freunde Snitchey und Craggs mit einem ganzen Stoß von Papieren, Rechnungen und Dokumenten über das Vermögen, das ich Ihnen zu übertragen habe (ich wollte, es wäre erheblicher, Alfred, aber Sie müssen ein tüchtiger Mann werden und es vergrößern), und anderem törichten Kram dieser Art. Der ist nur zu unterzeichnen, zu siegeln und zu übergeben.«
»Und rechtskräftig zu bestätigen, wie es das Gesetz vorschreibt«, sagte Snitchey. Er schob seinen Teller beiseite, holte die Papiere hervor, die sein Sozius auf dem Tische ausbreitete, und fuhr fort: »Da ich und Craggs gemeinschaftlich mit Ihnen, Doktor, Verwalter des Vermögens waren, so werden uns Ihre beiden Hausangestellten als Zeugen dienen – können Sie lesen, Mrs. Newcome?«
»Ich bin nicht verheiratet, mein Herr«, sagte Clemency.
»Ach, Verzeihung. Ich konnte mir dies denken«, sagte Snitchey lächelnd und betrachtete zugleich die wunderliche Erscheinung. »Sie können lesen?«
»Ein bißchen«, erwiderte Clemency.
»Sie lesen wohl am liebsten, von früh bis abends, das Verheiratungsformular, nicht wahr?« bemerkte scherzend der Anwalt.
»Nein«, sagte Clemency. »Zu schwer. Ich lese nur den Fingerhut.«
»Den Fingerhut?« wiederholte Snitchey. »Was soll das bedeuten?«
Clemency nickte und sagte: »Und das Muskatsieb«.
»Sie ist verrückt! Etwas für den Lord Oberkanzler!« sagte Snitchey und fixierte sie.
»Wenn sie Vermögen besitzt«, bemerkte Craggs.
Jetzt mischte sich aber Grace dazwischen und erklärte ihnen, daß auf die beiden genannten Gegenstände ein Motto geschrieben sei, und daß sie auf diese Weise die Taschenbibliothek Clemencys bildeten, die sich mit Büchern nicht viel abgab.
»Ach, das bedeutet es, Miß Grace!« sagte Snitchey. »Ja, ja. Ha, ha, ha! ich dachte, das gute Mädchen wäre im Verstand nicht richtig. Sie sieht ganz danach aus«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Was aber steht auf dem Fingerhut, Mrs. Newcome?«
»Ich bin nicht verheiratet, Mister«, bemerkte Clemency.
»Na, dann nur Newcome. Wird das passen?« sagte der Anwalt. »Was steht auf dem Fingerhut, Newcome?«
Wie Clemency, ehe sie diese Frage beantwortete, eine Tasche aufklappte und in ihrer gähnenden Tiefe nach dem Fingerhut suchte, der nicht darin war – und wie sie es mit der andern Tasche ebenso machte, und ihn tief unten wie eine Perle von großem Werte zu entdecken schien; wie sie dann alle dazwischenliegenden Hindernisse, als da waren ein Schnupftuch, ein Kerzenstummel, ein rotbäckiger Apfel, eine Orange, ein Glückspfennig, ein Schloß, eine Schere in Futteral, eine Handvoll Glasperlen, mehrere Garnknäuel, eine Nadelbüchse, eine vollständige Sammlung von Haarwickeln und ein Zwieback, beiseite räumte und jedes dieser Dinge einzeln Britain zu halten gab – das kümmert uns wenig. Auch nicht, wie sie bei ihrem Bemühen, die Tasche zu packen und festzuhalten (denn diese hatte merkwürdige Neigung zu schaukeln und in die nächste Ecke zu schlüpfen), eine Haltung annahm und diese festhielt, obwohl sie allem Anschein nach mit der menschlichen Anatomie und den Gesetzen der Schwerkraft im vollkommensten Widerspruch stand. Es genügt uns, daß sie zuletzt mit Triumph den Fingerhut auf den Finger steckte, und mit dem Muskatsieb klirrte, wobei zu beachten ist, daß die Literatur dieser beiden Geräte infolge der übermäßigen Abnutzung dem Verschwinden nahe war.
»Das ist also der Fingerhut?« sagte Mr. Snitchey, um sich auf ihre Kosten zu amüsieren. »Und was sagt der Fingerhut?«
»Er sagt«, antwortete Clemency und buchstabierte langsam die Inschrift heraus: »Ver – giß – und – ver – gib.«
Snitchey und Craggs lachten vergnügt. »Das ist nett!« sagte Snitchey. »Nicht übel!« sagte Craggs. »Soviel Menschenkenntnis verratend«, sagte Snitchey. »So praktisch fürs tägliche Leben«, sagte Craggs.
»Und das Muskatsieb?« forschte Snitchey weiter.
»Das Muskatsieb sagt«, entgegnete Clemency: »Was – du – willst – daß – dir – die – Leute – tun – das – tue – du – ihnen – auch.«
»Tue den Leuten etwas, damit sie dir nichts tun, wollen Sie wohl sagen?« sagte Mr. Snitchey.
»Das verstehe ich nicht«, antwortete Clemency und schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Anwalt.«
»Ich fürchte, wenn sie es wären, Doktor«, sagte Mr. Snitchey, indem er sich schnell zu diesem kehrte, als wollte er im voraus den Eindruck verwischen, den diese Antwort vielleicht hervorrufen könnte, »würden sie finden, daß dies die Moral ihrer meisten Klienten wäre. Darin sind sie sehr ernsthaft – so komisch sonst die Welt ist – und schieben dann die Schuld uns zu. Wir Juristen sind im Grund nur eine Art Spiegel, Mr. Alfred; aber meistens wenden sich hitzige, zornige und zänkische Leute, die nicht zum besten aussehen, an uns um Rat. Es ist daher eigentlich unrecht, auf uns zu schimpfen, wenn wir den Leuten unfreundliche Gesichter zeigen. Ich glaube«, sagte Mr. Snitchey, »ich spreche zugleich die Meinung unseres Mr. Craggs aus.«
»Ganz und gar«, sagte Craggs.
»Und so wollen wir denn, wenn Mr. Britain uns etwas Tinte gestatten will«, sagte Mr. Snitchey und nahm die Papiere wieder zur Hand, »sobald wie möglich unterzeichnen, besiegeln und übergeben; sonst kommt die Landkutsche, noch ehe wir wissen, wie weit wir sind.«
Wenn man nach dem Äußern urteilen wollte, so war es sehr wahrscheinlich, daß die Kutsche vorbeifuhr, noch bevor Mr. Britain wußte, wo er war; denn er stand ganz in Gedanken verloren da und wog die Argumente des Doktors gegen die der Anwälte, und der Anwälte gegen den Doktor, und der Klienten gegen beide bei sich gegeneinander ab; er machte schwache Versuche, den Fingerhut, und das Muskatsieb (ein ihm ganz neuer Begriff) mit irgendeiner ihm geläufigen Philosophie in Einklang zu bringen. Kurzum, er zerbrach sich, wie nur je seine große Namensvetterin, den Kopf mit Theorien und Systemen. Aber Clemency – die sein guter Geist war – obgleich er, weil sie sich nur selten um abstrakte Gedankengänge kümmerte und immer bei der Hand war, um das Rechte zur rechten Zeit zu tun, nur eine zu geringe Meinung von ihrer Vernunft hatte – war währenddem mit der Tinte erschienen und half ihm ferner noch dadurch, daß sie ihn durch einen Stoß mit dem Ellbogen aus seiner Zerstreutheit wieder zu sich brachte und ihn ganz munter machte.
Ich unterlasse es zu erzählen, wie ihn die bei Leuten seines Standes, die mit der Feder nicht umzugehen verstehen, häufige Besorgnis peinigte, daß er ein nicht von ihm selbst geschriebenes Schriftstück nicht mit einem Namen unterzeichnen könnte, ohne sich einer noch unbekannten Gefahr auszuliefern oder sich unbewußt zur Zahlung ungeheurer Summen zu verpflichten; oder wie er sich den Dokumenten nur mit Zagen und gezwungen vom Doktor näherte, und sie durchaus erst durchsehen wollte, ehe er unterschrieb (die Schreibschnörkel und gar erst die juristischen Ausdrücke waren für ihn so gut wie chinesisch), und das Blatt umwenden, um zu sehen, ob auf der anderen Seite nicht Gefährliches stünde: und wie er, nachdem er seinen Namen unterzeichnet hatte, ganz unglücklich wurde wie einer, der sein Vermögen und seine Rechte preisgegeben. Ich kann auch nicht ausführlich schildern, wie der blaue Beutel, der seine Unterschrift aufbewahrte, später eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf ihn ausübte, so daß er nicht von ihm weichen mochte; ferner wie Clemency Newcome, ganz aus dem Häuschen vor Vergnügen bei dem