Weihnachtsgeschichten, Märchen & Sagen (Über 100 Titel in einem Buch - Illustrierte Ausgabe). Оскар Уайльд. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Оскар Уайльд
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788075835024
Скачать книгу
zu sein schien, gab jetzt einen eigenen Gedanken zum besten. Dieser bezog sich auf die einzige Idee, die er nicht mit Snitchey zur gleichen Hälfte innehatte; dafür nahmen sie noch einige andere kluge und erfahrene Leute in Anspruch.

      »Die Prozesse weiden den Leuten viel zu leicht gemacht«, sagte Craggs.

      »Die Prozesse?« fragte der Doktor.

      »Ja«, sagte Mr. Craggs, »wie alles andere. Alles auf der Welt ist heutigentags nur dazu da, um zu leicht gemacht zu werden. Das ist die Schwachheit unserer Zeit. Wenn die Welt ein Spaß ist (ich bin nicht geneigt, dies in Abrede zu stellen), so sollte sie ein sehr schwieriger Spaß sein. Das Leben sollte ein möglichst anstrengender Kampf sein, Sir. Dazu ist es doch da. Aber jetzt wird es leicht gemacht. Wir schmieren die Türangeln des Lebens gut ein. Aber sie sollten rostig sein. Sie werden sich bald ganz alleine auftun lernen. Und doch sollten sie in der Angel knirschen, Sir.«

      Mr. Craggs schien selbst mit seinen Türangeln zu knirschen, als er seine Meinung darlegte, deren Eindruck er durch sein Äußeres bedeutend verstärkte, denn er war ein kalter, trockener, finsterer Mann, in Grau und Weiß gehüllt wie ein Feuerstein, und hatte kleine funkelnde Augen, als ob man Feuer aus ihnen schlüge. Alle drei Reiche der Natur hatten eigentlich ihren Vertreter unter diesen drei Männern: denn Snitchey glich einer Elster oder einem Raben (nur, daß er nicht so glatt und glänzend aussah), und der Doktor hatte ein streifiges Gesicht wie ein Zitronenapfel, und dazu hier und da ein Grübchen, als ob dort die Vögel gepickt haben könnten, und hinten hing ihm ein kleines Zöpfchen, das den Stiel bedeutete.

      Da erschien die schmucke Gestalt eines hübschen Jünglings im Reiseanzug. Er war begleitet von einem Mann, der sein Gepäck trug, und näherte sich der Gartentür mit schnellem Schritt und einem Gesicht voll Fröhlichkeit und Hoffnung, wie es zu dem Morgen paßte. Da traten ihm die drei entgegen, wie die Brüder der drei Parzen, oder wie die höchst effektvoll verkleideten drei Grazien, oder wie die grauen Propheten in der Einöde, und begrüßten ihn.

      »Also noch viele solche glücklichen Tage, Fred«, sagte der Doktor obenhin.

      »Möge dieser glückliche Tag hundertmal sich wiederholen, Mr. Heathfield«, sagte Mr. Snitchey und verbeugte sich tief.

      »Möge er sich vielmal wiederholen!« sagte als Echo Craggs im tiefen Baß.

      »Welch Gruß!« rief Alfred aus und blieb stehen, »und eins – zwei – drei – lauter Propheten von nichts Gutem auf dem großen Lebensmeer. Ich bin froh, daß sie nicht die ersten sind, die ich heut morgen erblicke; ich hätte es für üble Vorbedeutung genommen. Aber Grace war die erste – meine liebe, teure Grace – so nehme ich euch alle in den Kauf.«

      »Wenn Sie erlauben, Herr, ich war die erste«, sagte Clemency Newcome. »Sie wissen, Sie gingen hier draußen in der Morgendämmerung spazieren. Ich war drin im Hause.«

      »Das ist wahr! Clemency war die erste«, sagte Alfred. »So setze ich Clemency als Gegengewicht gegen euch.«

      »Ha, ha, ha! – gegen mich und Craggs«, sagte Snitchey. »Welches Gegengewicht!«

      »Sie ist vielleicht nicht so schlecht, wie sie ausschaut«, sagte Alfred und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand, dann auch Snitchey und Craggs und blickte sich um. »Wo sind die – lieber Himmel!«

      Mit einer schnellen Wendung, die auf einen Augenblick Jonathan Snitchey und Thomas Craggs in intimere Berührung miteinander brachte, als sie dies in ihrem Geschäftskontrakt vorgesehen hatten, eilte er dorthin, wo die beiden Schwestern standen, – ich brauche nicht erst zu erzählen, wie er zuerst Marion und dann Grace begrüßte, und möchte nur feststellen, wie Mr. Craggs vielleicht gefunden haben wird, daß er es sich zu leicht mache.

      Vielleicht in der Absicht, die Aufmerksamkeit abzulenken, eilte Doktor Jeddler an den Frühstückstisch, und alle ließen sich zum Mahl nieder. Grace saß an der Spitze der Tafel, verstand es aber, sich so zu placieren, daß sie ihre Schwester und Alfred von der übrigen Gesellschaft trennte. Snitchey und Craggs saßen sich vis-à-vis, zwischen sich den blauen Stoß zur Sicherung. Der Doktor aber hatte seinen üblichen Platz Grace gegenüber. Clemency schwebte irrlichterierend um den Tisch als Kellnerin; und der melancholische Britain übte an einem kleinen Seitentisch das Amt des Tranchierens.

      »Fleisch?« sagte Britain, indem er sich Mr. Snitchey, Tranchier und Gabel in der Hand, näherte und ihm die Frage wie einen Stein an den Kopf schleuderte.

      »Ja«, antwortete der Anwalt.

      »Wünschen Sie welches?« sagte dann Britain zu Craggs.

      »Mager und gebräunt«, antwortete dieser.

      Nachdem er die Wünsche dieser beiden erledigt und den Doktor leidlich bedient hatte (er schien zu wissen, daß die anderen nach Speise kein Verlangen trugen), blieb er den beiden Anwälten so nahe, wie es nur der Anstand erlaubte, und beobachtete sie mit starrem Blick. Nur einmal besänftigte sich sein unfreundliches Gesicht ein wenig, nämlich als Mister Craggs, dessen Zähne nicht die besten waren, sich verschluckt hatte und von einem heftigen Hustenanfall befallen wurde. Da rief er mit besonderer Lebhaftigkeit aus: »Ich dachte, er sollte ersticken!«

      »Nun, Alfred«, sagte der Doktor, »ein paar Worte über Geschäftssachen, solange wir noch beim Frühstück sind.«

      »Solange wir noch beim Frühstück sind«, sagten Snitchey und Craggs, die noch gar nicht ans Aufhören denken mochten.

      Obwohl Alfred nicht gefrühstückt hatte und offenbar nachgerade beschäftigt war, so gab er doch ehrerbietig zur Antwort: »Wie es Ihnen angenehm ist, Sir!«

      »Wenn es etwas Ernsthaftes geben sollte«, begann der Doktor, »in diesem –«

      »In diesem Possenspiel«, fuhr der Doktor fort, »so wäre es solch ein Zusammentreffen des Abschiedstages mit einem doppelten Geburtstage, an den sich für uns vier manche freundliche Erinnerung knüpft, und der uns immer unser langes und freundschaftliches Zusammensein ins Gedächtnis zurückrufen wird. Doch das gehört nicht hierher.«

      »O doch, Doktor Jeddler«, sagte der Jüngling. »Sicher gehört es hierher, das sagt mir mein Herz heute morgen, und das Ihre würde es auch tun, wenn Sie nur darauf hören wollten. Ich verlasse heute Ihr Heim; ich höre heute auf, Ihr Mündel zu sein; wir scheiden als halbe Verwandte, die ein Band lösen, während andere Bande schon in der Zukunft locken«, er blickte bei diesen Worten auf Marion, die an seiner Seite saß, hernieder, »Bande, so reich an Hoffnungen, wie es Worte nicht auszudrücken vermögen. Sie sehen«, setzte er fröhlich hinzu, »Sie sehen, Doktor, es ist noch ein Körnchen Ernst in diesem großen närrischen Haufen Nichtigkeit. Heute wollen wir wenigstens eingestehen, daß noch ein Körnchen Ernst vorhanden ist.«

      »Heute!« rief der Doktor. »Hört nur, hört! ha, ha, ha! Gerade heute von allen Tagen im Lauf des närrischen Jahres. Was, heute, wo hier die große Schlacht geschlagen wurde? Auf diesem Platze, wo wir jetzt sitzen, wo ich meine Mädchen heute morgen tanzen sah, wo das Obst für unser Frühstück von diesen Bäumen gepflückt wurde, von Bäumen, die nicht in der Erde, sondern in Menschen wurzeln, traf so viele der Tod, daß in meiner Jugend noch – und auch für spätere Generationen wird das der Fall sein – ein guter Kirchhof voll Gebeine, und Staub von Gebeinen, und Splitter gespaltener Schädel hier ausgegraben wurden. Und doch wußten nicht hundert Menschen in dieser Schlacht, wofür und warum sie kämpften; nicht hundert derer, die über den Sieg frohlockten, warum sie es taten! Nicht fünfzig Menschen wurden glücklicher durch den Gewinn und den Verlust. Nicht sechs Menschen können sich bis heute über die Ursache und die Wirkungen einigen; kurz, niemand, außer denen, die um die Erschlagenen trauerten, hat jemals etwas Genaues davon gewußt. Ernst!« sagte der Doktor lachend. »Eine solche Welt!«

      »Aber mir kommt dies alles ernst genug vor«, sagte Alfred. »Ernst genug«, rief der Doktor. »Wenn Sie solche Dinge als ernst gelten lassen wollen, so müssen Sie wahnsinnig werden oder sterben oder auf einen hohen Berg steigen und Asket werden.«

      »Und dann ist es lange her«, sagte Alfred.

      »Lange her!« entgegnete der Doktor, »wissen Sie, was die Welt seit jener Zeit getrieben hat? Ich weiß es