»Nein, o nein!« sagte Marion und machte eine krause Stirn mit einer komischen Miene flüchtigen Nachdenkens, »vielleicht nicht. Aber ich weiß nicht, ob dies ein großes Verdienst ist. Ich – ich mag ihn eigentlich gar nicht so sehr treu haben. Ich habe ihn nie darum gebeten. Wenn er denkt, daß ich –. Aber, beste Grace, warum müssen wir gerade augenblicklich von ihm sprechen?«
Es war ein heiterer Anblick, die beiden anmutigen Gestalten der blühenden Schwestern Seite an Seite unter den Bäumen wandeln und miteinander sich unterhalten zu sehen, wie dabei Ernst dem leichten Sinn, auf jeden Fall aber Liebe der Liebe zärtlich antwortete. Und seltsam genug war es, daß in den Augen der jüngern Schwester eine Träne glänzte und daß ein tiefes und herzliches Gefühl durch den Mutwillen ihrer Worte schimmerte und stark dagegen ankämpfte.
Beide Mädchen mochten ihrem Alter nach nicht mehr als vier Jahre auseinander sein. Aber Grace erschien, wie oft in solchen Fällen, wo keine Mutter über beide wacht (des Doktors Frau war gestorben), in der mütterlichen Liebe zu ihrer jüngern Schwester älter, als sie war; und von natürlicher Anlage aller Neigung – außer durch mitfühlende Liebe, zu deren mutwilligen Laune ferner, als man nach ihren Jahren hätte meinen sollen. Hoher Mutterberuf, der selbst in diesem seinem Schattenbild das Herz läutert und das geheiligte Gemüt in Sphären des Engels erhebt!
Des Doktors Seele, während er ihnen nachschaute und zuhörte, beschäftigte sich im Anfang nur mit verschiedenen lustigen Gedanken über die Dummheit, etwas zu lieben und gern zu haben, über den eitlen Traum, durch den sich junge Herzen täuschen, wenn sie einen Augenblick glauben, es könnte etwas Ernstes hinter einer solchen Seifenblase, wie die Liebe ist, stecken, bis sie zuletzt sich enttäuscht sehen, und zwar in jedem Falle. Aber das anspruchslose, liebende Wesen seiner älteren Tochter, ihr sanftes Gemüt, das doch mit so viel Festigkeit und Frische gepaart erschien, rückte ihm stets den Kontrast ihrer stillen seelenvollen Erscheinung zu der glänzenden Schönheit seiner jüngeren Tochter vor Augen: und es tat ihm um ihretwillen leid, daß das Leben eine so lächerliche Angelegenheit war.
Der Doktor dachte nie daran, zu fragen, ob seine Kinder auf irgendeine Weise danach strebten, es zu einer ernsten Sache zu machen. Dafür war er eben ein Philosoph.
Von Natur ein Mann von gefühlvollem und warmem Herzen, war er durch Zufall auf jenen gewöhnlichen Stein der Weisen gestoßen (viel leichter zu finden als der, den die Alchimisten suchen), der oft gutmütigen Geistern ein Bein stellt und die unangenehme Eigenschaft hat, Gold in Schlacke und jedes kostbare Ding in etwas Wertloses zu wandeln.
»Britain!« rief der Doktor. »Britain! Hallo!«
Ein kleiner Mann mit hervorragend mürrischem und bissigem Gesicht trat jetzt aus dem Hause und beantwortete diesen Ruf ziemlich gleichmütig mit den Worten: »Nun, wo brennt’s denn?«
»Wo befindet sich der Frühstückstisch?« fragte der Doktor.
»Im Hause«, gab Britain zur Antwort.
»Wirst du ihn hier draußen decken, wie ich es dir gestern abend anordnete?« sagte der Doktor. »Weißt du nicht, daß Gesellschaft kommt? Daß, ehe die Landkutsche vorbeifährt, hier noch Geschäfte abgewickelt werden müssen? Daß heute ein besonders festlicher Tag ist?«
»Konnte ich denn etwas herrichten, Doktor Jeddler, bevor die Weiber ihre Äpfel gepflückt hatten, he?« sagte Britain und steigerte seine Stimme allgemach, so daß er zuletzt förmlich brüllte.
»Nun, sind sie denn jetzt fertig?« sagte der Doktor und blickte auf die Uhr. »Vorwärts, nun aber schnell! Wo ist Clemency?«
»Hier bin ich, Herr«, rief die Stimme von einer der Leitern herab, auf der ein Paar plumpe Füße rasch abwärts stiegen. »Wir sind fertig. Räumt fort, ihr Mädchen. In einer halben Minute soll alles aufgeräumt sein, Herr.«
Mit diesen Worten machte sie sich eifrig an die Arbeit und zeigte sich dabei in so eigenartiger Aufmachung, daß wohl einige Worte von ihr gesagt werden dürfen.
Sie war etwa dreißig Jahre alt und hatte ein ziemlich rundwangiges und freundliches Gesicht, obwohl sie sich dazu einen Ausdruck von gesetztem Wesen angenommen hatte, was ihr sehr drollig stand. Aber ihre außerordentlich linkische Art stellte das noch in Schatten. Wenn wir sagen, sie habe zwei linke Beine und Arme gehabt, die eigentlich einem andern gehörten, und daß diese vier Gliedmaßen ausgerenkt und gar nicht an ihrer rechten Stelle angesetzt zu sein schienen, so geben wir damit nur der Wahrheit so schonend wie möglich die Ehre. Wenn wir aber sagen, daß sie mit dieser Begabung völlig zufrieden war und ihre Arme und Beine gebrauchte, wie sie waren, daß sie deren Launen durchaus keinen Zwang auferlegte, so werden wir ihrer Gelassenheit nur im geringsten Maß gerecht. Ihr Anzug bestand aus ein paar riesengroßen, eigenwilligen Schuhen, die immer anderswohin wollten, als ihre Füße, aus blauen Strümpfen und einem bunten Kattunkleid vom häßlichsten Muster, das man für Geld überhaupt bekommen könnte, und einer weißen Schürze. Sie trug immer kurze Ärmel und hatte sich stets die Ellbogen wundgescheuert. Dabei nahm sie an diesen solch lebhaften Anteil, daß sie sich ständig bemühte, sie in jeder Stellung, selbst wo es ganz unmöglich war, herumzudrehen und zu besehen. Gewöhnlich saß eine kleine Mütze irgendwo auf ihrem Kopf, obwohl sie nur selten auf dem Platze zu sehen war, den dieses Kleidungsstück bei andern Leuten meistens einnimmt; aber vom Scheitel bis zur Zehe, war sie überaus propre und zeigte eine Art linkischer Gefälligkeit.
Dies war die äußere Erscheinung und Kleidung von Clemency Newcome, die man im Verdacht hatte, selbst, obzwar unschuldig daran, eine Verfälschung ihres Taufnamens Klementine veranlaßt zu haben (aber niemand wußte es gewiß, denn ihre taube alte Mutter, die ihres hohen Alters wegen ein reines Wunder war, und die sie fast von ihrer Kindheit an unterstützt hatte, war gestorben, und andere Verwandte hatte sie nicht mehr). Jetzt war sie damit beschäftigt, den Tisch zu decken, und stand von Zeit zu Zeit da, die roten Arme übereinander geschlagen, den wundgestoßenen Ellbogen mit der Hand des andern Armes reibend und sie seelenruhig betrachtend, bis sie sich plötzlich auf etwas besann, was noch fehlte, und dann forteilte, um es zu holen.
»Da kommen die beiden Anwälte, Herr!« sagte Clemency in nicht sehr freundlichem Ton.
»Ah!« rief der Doktor und ging ihnen entgegen. »Guten Morgen, guten Morgen! Liebe Grace! Marion! Hier sind Mr. Snitchey und Mr. Craggs. Wo bleibt Alfred?«
»Er wird gewiß sofort kommen, Vater«, sagte Grace. »Er hatte diesen Morgen mit den Vorbereitungen zur Abreise so viel zu tun, daß er schon in der Morgendämmerung aufgestanden und ausgegangen ist. – Guten Morgen, meine Herren!«
»Guten Morgen, meine Damen«, sagte Mr. Snitchey, »für mich und Craggs« – dieser verneigte sich »guten Morgen, mein Fräulein« – zu Marion – »ich küsse Ihnen die Hand«, was er auch wirklich tat. »Und ich wünsche« – das sah man ihm freilich nicht an; denn im ersten Anblick mochte man ihm eigentlich nicht sehr viel gute Wünsche für andere Leute zutrauen – »daß dieser glückliche Tag hundertmal wiederkehren möge.«
»Ha, ha, ha!« lachte der Doktor ironisch, die Hände in die Taschen gesteckt. »Das große Possenspiel in hundert Akten!«
»Sie werden doch sicherlich nicht wünschen, Doktor Jeddler«, sagte Mr. Snitchey und stellte einen kleinen blauen Aktenstoß auf den Tisch, »das große Possenspiel für diese Schauspielerin abzukürzen?«
»O nein«, entgegnete der Doktor. »Gott bewahre! Möge sie leben und darüber lachen, solange sie lachen kann, und dann sagen mit jenem Franzosen: Die Komödie ist aus, laßt den Vorhang fallen.«
»Der Franzose«, sagte Mr. Snitchey und guckte auf den blauen Stoß, »hatte unrecht, Doktor Jeddler; und Ihre Philosophie hat auch völlig unrecht, darauf können Sie sich verlassen. Ich habe das Ihnen schon oft gesagt. Es gäbe keinen Ernst im Leben! Als was bezeichnen sie dann einen Prozeß?« »Als Spaß«, erwiderte der Doktor.
»Haben Sie einmal einen Prozeß gehabt?« fragte Mr. Snitchey, von dem blauen Stoß aufblickend.
»Nie«, antwortete der Doktor.
»Wenn Sie einmal zu einem gelangen«,