Es gab nur noch eine Gunst, welche das Glück seinem Schooßkind gewähren konnte, und auch diese Gunst gewährte es ihm. So lange die Frau, die er verleugnet und verlassen hatte, am Leben war, haftete ein Makel an Vanborough’s vergangenem Leben. Gegen Ende des ersten Jahres aber starb diese Frau und der Makel war getilgt.
Sie hatte die ihr angethane schimpfliche Beleidigung mit seltener Geduld, mit bewundernswerthem Muthe hingenommen. Man darf Vanborough die Anerkennung nicht versagen, daß er ihr Herz unter strengster Beobachtung der Gebote der Schicklichkeit brach. Er ließ ihr durch seinen Advokaten ein sehr anständiges Jahrgehalt für sie und ihre Tochter anbieten. Sie lehnte das Anerbieten, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, ab. Sie wollte weder seinen Namen mehr tragen, noch sein Geld annehmen. Unter dem Namen, den sie als Mädchen getragen und der sie in der Kunstwelt berühmt gemacht hatte, waren Mutter und Tochter von nun an allen Denen bekannt, die es noch der Mühe werth hielten, sich um sie zu kümmern, seit sie in stiller Verborgenheit lebten.
Es war kein falscher Stolz in dieser Haltung, zu der sie sich entschloß, nachdem ihr Gatte sie verlassen hatte. Mrs. Silvester, wie sie sich jetzt nannte, nahm die Unterstützung der theuren alten Freundin, die sie in ihrem Unglück wiedergefunden hatte, und die ihr bis an das Ende ihres Lebens treu blieb, für sich und ihre Tochter Anne dankbar an.
Sie lebten bei dieser Freundin Lady Lundie, bis Mrs. Silvester sich stark genug fühlte, ihren künftigen Lebensplan, ihr Brot als Gesanglehrerin zu verdienen, zur Ausführung zu bringen. Dem äußern Anschein nach erholte sie sich und war nach Verlauf weniger Monate wieder ganz die Alte. Sie kam in ihrem neuen Beruf sehr gut fort, überall erwarb sie sich Sympathie, Vertrauen und Achtung, als plötzlich im Beginn ihrer neuen Laufbahn ihre Kräfte zu schwinden anfingen. Niemand wußte sich ihren Zustand zu erklären. Selbst die Aerzte waren verschiedener Ansichten. Medicinisch gesprochen, war kein Grund dieser verzehrenden Krankheit erfindlich, und für die Männer der Wissenschaft war es eine reine Redensart, wenn Lady Lundie erklärte, ihre Freundin habe den Todesstoß an dem Tage erhalten, wo ihr Gatte sie verlassen habe. Fest stand nur die Thatsache, die man sich erklären mag wie man will, daß Mrs. Silvester ungeachtet nicht nur der Anwendung aller physischen Mittel, sondern auch des ganzen Aufgebots ihrer Energie und des muthigen Entschlusses, für ihr Kind zu leben, hinsiechte und starb.
In den letzten Tagen ihrer Krankheit fing ihre Geisteskraft nachzulassen an. Die Jugendfreundin, die an ihrem Bette saß, hörte sie reden, als ob sie sich in jene Stunde des Abschieds in der Schiffskajüte zurückversetzt glaube. Die arme Sterbende hatte in ihrer Stimme wieder den Ton und in ihrem Auge fast wieder den Blick, wie in jener Stunde, in der die beiden Mädchen sich getrennt hatten, um so verschiedene Lebenswege zu betreten. »Liebste Freundin«, sagte sie, »wir wollen uns mit all’ der alten Liebe im Herzen wiedersehen«, und sprach diese Worte genau in demselben Ton, wie sie diese vor fast einem Menschenalter gesprochen hatte. Aber vor ihrem Ende erlangte sie wieder ein völlig klares Bewußtsein. Sie überraschte den Arzt und die Wärterin durch die freundlich ausgesprochene Bitte, das Zimmer zu verlassen. Als sie und Lady Lundie allein waren, sah sie diese an, als ob sie plötzlich aus einem Traum erwache und sich ihres Zustandes wieder klar bewußt werde.
»Blanche!« sagte sie, »willst Du Dich meines Kindes annehmen?«
»Sie soll mein Kind sein, Anne, wenn Du uns verlassen hast.«
Die Sterbende hielt inne und schien einen Augenblick nachzudenken. Plötzlich fing sie an zu zittern. »Im strengsten Vertrauen«, sagte sie, »ich fürchte für mein Kind.«
»Warum das?«
»Ist nicht Anne mein vollkommenes Ebenbild?«
»Ja.«
»Liebt sie nicht Dein Kind wie ich Dich geliebt habe?«
»Ja.«
»Sie trägt nicht den Namen ihres Vaters, sondern den meinigen. Ist sie nicht Anne Silvester, wie ich es gewesen bin? – Blanche! Wird sie auch enden wie ich?«
Sie that diese Frage mit dem schweren Athem und dem Lallen der Zunge, welche den nahen Tod verkünden. Die Freundin fühlte sich aufs tiefste erschüttert.
»Wie kommst Du auf solche Gedanken?« rief sie entsetzt »Um Gotteswillen, denke so etwas nicht!«
»Die Augen der Sterbenden nahmen wieder den Ausdruck der Bewußtlosigkeit an. Sie versuchte, eine ungeduldige Handbewegung zu machen. Lady Lundie beugte sich über sie und vernahm die kaum hörbar geflüsterten Worte »Richte mich auf!«
Als sie nun in den Armen ihrer Freundin lag und in deren Augen blickte, kam sie wieder auf ihre qualvolle Angst vor dem Schicksal ihres Kindes zurück.
»Laß sie nicht erzogen werden wie ich! Sie muß Gouvernante werden, sie muß ihr Brod verdienen. Laß sie nicht Schauspielerin, nicht Sängerin werden! Laß sie nicht auf die Bühne gehen!« Sie hielt inne, aber plötzlich fügte sie mit einem Lächeln und mit einer Stimme, deren Anmuth an frühere Zeiten erinnerte, die einst als Mädchen gesprochenen Worte hinzu: »Gelobe es mir, Blanche! Lady Lundie küßte sie und antwortete, wie sie damals auf dem Schiff geantwortet hatte, »ich gelobe es, Anne!«
Da ließ die Sterbende dass Haupt sinken, um es nie wieder zu erheben. Der letzte Lebensfunke flackerte noch einmal in den schon verdüsterten Blicken auf und verlosch. Noch einen Augenblick bewegten sich ihre Lippen. Lady Lundie legte ihr Ohr dicht an dieselben und hörte die schreckliche Frage noch einmal in denselben schrecklichen Worten ausgesprochen »Sie ist Anne Silvester, – wie ich es war. Wird sie auch enden wie ich?«
VI
Fünf Jahre waren vergangen und die Lebensschicksale der drei Männer, welche in der Villa in Hampstead zusammen beim Dessert gesessen hatten, fingen an, in ihrem wechselvollen Verlauf den Fortschritt der Zeit zu bekunden. Die drei Männer waren, wie sich der Leser erinnert, die Mrs. Kendrew, Delamayn und Vanborough.
Wie der Freund Vanborough’s, Mr. Kendrew, seine Empfindungen bei dem Verrath des Gatten geäußert hatte, ist bereits erzählt worden. Wir haben noch zu berichten, welchen Eindruck die Nachricht von dem Tode der verlassenen Frau auf ihn machte. Das Gerücht, welches den Menschen in’s innerste Herz zu schauen versteht und sich darin gefällt, dieses Innerste dem Auge der Menge blos zu legen, hatte immer behauptet, daß über dem Leben Krendrew’s ein Geheimniß walte, und daß dieses Geheimniß in einer hoffnungslosen Leidenschaft für die schöne Frau bestehe, die sein Freund geheirathet hatte. Keine gegen ein lebendes Wesen geschehene, noch so entfernte Anspielung, kein jemals zu der Frau selbst gesprochenes Wort konnte, so lange diese lebte, zum Beweise jener Behauptung angeführt werden. Als sie starb, tauchte das Gerücht mit größerer Bestimmtheit als je zuvor wieder aus und berief sich auf das Benehmen des Mannes als Beweis für seine Behauptung.
Er wohnte dem Leichenbegängniß bei, obgleich er kein Verwandter war. In einem Augenblick, wo er unbeobachtet glaubte, pflückte er einige Grashalme von dem Rasen, mit dem ihr Grab zugedeckt wurde. Man sah ihn nicht mehr in seinem Club, er ging auf Reisen. Als er zurückkehrte, erklärte er, daß er Englands überdrüssig sei und bewarb sich mit Erfolg um eine Anstellung in einer der Colonien. Was mußte man aus alle Dem, schließen? War es nicht klar, daß sein bisheriges Leben allen Reiz für ihn verloren hatte, seit der Gegenstand seiner Neigung verschwunden war? Vielleicht war dem so, es sind schon weniger wahrscheinliche Vermuthungen aufgestellt worden, die doch das Wahre getroffen haben. Wie dem aber auch sein mag, gewiß ist, daß er England verließ, um nie wieder dahin zurückzukehren.
Mr. Delamayn ließ sich von der Liste der Rechtsanwalte streichen, um sich durch