Um sich für den Augenblick wenigstens los zu machen, versprach sie, mit dem Vater zu sprechen, und ward in Gnaden entlassen.
Neugierig, ob das alles so wahr sey, was die Fürstinn ihr von der Macht ihres Einflusses auf Viktor vertraut, erlaubte sie sich das nächstemal, als sie ihn sprach, ihn, auf eine sehr schonende und verdeckte Weise, auf die nutzlose Versplitterung seiner Zeit dadurch aufmerksam zu machen, daß sie sich über den jungen Grafen von Stufen äusserte, der, statt sich um die Verwaltung seiner weitläufigen Güter zu bekümmern, die bei der Kränklichkeit seines Vaters lediglich in eigensüchtiger Beamten Händen liegen, Jahr aus Jahr ein seine Tage in der Residenz mit Nichtsthun verbringe, und dafür jetzt die furchtbare Plage der Langweile, das Zurückkommen seiner Revenüen, die Verschlechterung seiner Besitzungen, den Mangel der Liebe seiner Unterthanen, und den Verlust der Achtung seiner verständigern Standesgenossen als natürliche Folgen seines zweckwidrigen Benehmens ansehen müsse.
Viktor schlug die Augen nieder. Sein Gefühl für Wahrheit sagte ihm unverholen, daß er bis jetzt in dieser Hinsicht ein würdiges Seitenstück des geschilderten Stufen sey; auch er hatte bis hierher vom Morgen bis zum Abend nichts gethan; auch ihn quälte die bleierne Marter der langsamen Zeit; auch ihm waren Klagen über Minder-Einnahme in den Staats-Kassen zu Ohren gekommen, und was den Wohlstand des Landes, die Liebe der Unterthanen und die Achtung der Zeitgenossen betraf, so meinte er im Stillen, daß es ihm vielleicht nur an einer freimüthigen Stimme fehle, um über diese Punkte ebenfalls gleiche Aeusserungen zu vernehmen; er schwieg zu Aurorens scharfem Tadel, die, wenn sie einmal sprach, immer, wie es schien, die Worte absichtlich spitzte, daß sie wie Pfeile trafen, und die bittere Arzenei mit einemmale reichte, um der Wirkung desto sicherer zu seyn.
Noch denselben Abend aber fuhr er zum Minister des Innern, einem alten wakkern Herrn und treuen Diener seines Hauses, und bat ihn, sich seiner anzunehmen und ihn nach und nach mit der Landesverwaltung und mit dem praktischen Geschäftgange bekannt zu machen. Die alte Excellenz drückte freudig die Hand des lernbegierigen Schülers an sein Herz, hieß ihn im Namen des ganzen Landes willkommen, und meinte, daß ihm diesen großherzigen Einfall ein Engel eingegeben haben müsse.
Viktors Wangen erglühten bei diesem Worte im Purpur seiner himmelreinen Liebe. Aurora war sein Engel, und diesem zu gefallen scheute er das Trockene nicht, das er anfänglich in seinen neuen Studien zu finden sich nicht verhelen konnte. Aber bald gewann er seine neuen Beschäftigungen so lieb, daß er sich selbst nicht begreifen konnte, wie er seine edle Zeit früher mit Nichtsthun hatte vergeuden können; er nahm späterhin, als ihm sein würdiger Lehrer das Zeugniß der Reife gab, an den Vorträgen Theil, bereis’te eine Provinz des Landes nach der andern, sprach die Provinzialbehörden alle persönlich, verschaffte sich von der Oertlichkeit überall die nöthigste Kenntniß, und ward jetzt erst in dem Lande seiner Väter heimisch.
Alle diese ernsten Beschäftigungen wandelten Viktors Charakter von Grund aus um; der jugendliche Muthwille verschwand und mit ihm die ehemalige barsche Aussenseite; er lernte den Menschen achten, und den Schweiß, in dem er das Brod ißt, schätzen; Arbeit ward ihm selbst zum Bedürfniß; die Sorge für das Wohl der Unterthanen seines Vaters erfüllte ihm Herz und Seele; mit freundlicher Milde lieh er dem Bittenden sein Ohr, und die zarte Weise, mit der er bei seinen, zur Zeit noch beschränkten Mitteln, dem schuldlosen Unglücklichen nach Kräften Hülfe gewährte; die Regsamkeit, die er in die öffentlichen Angelegenheiten brachte; die Strenge, mit der er gegen säumige oder unredliche Beamten verfuhr; der Eifer, mit dem er sich ausschließlich dem Gemeinwohl widmete und die gewissenhafte Rechtlichkeit, die jede seiner Handlungen zum reinen Tugendwerke stempelte, erwarben ihm gar bald die allgemeine ehrfurchtvollste Achtung des ganzen Volkes, die treueste Anhänglichkeit Aller, die ihm näher standen, das unbegrenzte Wohlwollen der Fürstinn Mutter, und Aurorens hingebende Lie —
Aber Kinder, rief der alte Ulmenhorst, in das Zimmer tretend: was seyd Ihr für Menschen! Drinnen im Saal die ausgesuchtesten Blumen der schönen Welt, und hier stehen meine beßten Tänzer und plaudern stundenlang mit einander, wie ein paar alte Hypochondristen. Allons, marsch, in das Feuer!
Beide eilten zurück, und der Vater flisterte, sie begleitend, dem Sohne, mit dem Tone freundlichen Verweises, in das Ohr: Du hast wohl noch gar nicht mit der Waiblingen getanzt? sie ist unter den jungen Damen hier dem Range nach vel quasi die Erste, und somit scheinen es die Dehors zu verlangen, daß Du sie aufforderst; überdieß tanzt sie nicht schlecht.
Wie ein Engel tanzt sie, erwiederte Gotthold, noch verloren in stille Verzückung über alles, was ihm eben Schnüren über sie mitgetheilt hatte, und sah sich, unterdessen in den Saal gelangt, nach ihr um, sie um den nächsten Cotillon zu bitten.
Eingedenk der linkischen Weise, mit der er sich vorhin bei ihr eingeführt zu haben vermeinte, setzte er in Gedanken seine Worte, mit denen er sie um den Tanz ansprechen wollte, recht sinnreich zusammen; aber, als er sich der zarten Hebegestalt näherte, in der er den wohlthätigen Schubgeist des ganzen Landes verkörpert vor sich zu sehen wähnte, entsank ihm wieder der Muth zur Anrede, und er stand in stummes, liebendes Staunen versunken, hinter ihr und betrachtete sie mit landeskindlicher Ehrfurcht, wie der Gläubige seine Heilige.
Der Vater, dem diese sonderbare Schüchternheit nicht entging, und der bei sich denken mochte, daß auf diese Manier die beiden für einander Bestimmten sich im Leben nicht kennen lernen würden, machte kurzen Prozeß, trat Auroren an, und bat für seinen Sohn, den er zum zweitenmale ihr mit einem empfehlenden Handwink vorstellte, um das Glück des nächsten Tanzes. Aurora wendete sich mit freundlicher Anmuth zum Sohne und bedauerte, für den ganzen Abend schon versagt zu seyn, und Gotthold zog sich nach einer verlegenen Verbeugung zurück, und erhielt, zur Verstärkung seines heimlichen Aergers über das erhaltene Körbchen, vom Vater, seiner unverantwortlichen Vernachlässigung Aurorens wegen, einen wohlverdienten Wischer.
Auch Aurora erhielt einen von der Hofmarschallinn, die ihr die, dem Sohne vom Hause und dem eigentlichen Könige des Festes gegebene abschlägliche Resolution als eine Unschicklichkeit darstellte, die sie auf dem Flecke durchaus wieder gut zu machen habe; zum Glücke war Aurora auf den nächsten Tanz mit einem ihrer Cousins versagt; diesem auseinander zu setzen, daß er heute dem jungen Ulmenhorst nachstehen müsse, nahm die gewandte Frau über sich, und Aurora, die mit dem Cousin alle Tage tanzen konnte, und der dieser viel weniger gefiel, als der sehr hübsche Ulmenhorst, in dessen komischer Befangenheit ihr feiner Mädchenblick die schmeichelndste Huldigung las, ließ sich den Tausch gern gefallen.
Sie empfing daher von der Tante Hofmarschallin die Botschaft, daß der Cousin, in Betracht der hier zu nehmenden Rücksichten, auf den Cotillon verzichtet, mit Vergnügen, und bat, den jungen Ulmenhorst davon in Kenntniß setzen zu lassen; aber die schlaue Excellenz entgegnete, daß sie das selbst thun müsse; sie habe dem armen Menschen vorhin durch ihre Versagung des Tanzes wehe gethan, und nun sey es an ihr, dieß selbst wieder gut zu machen.
Aurora entgegnete zwar in ihrem fein geregelten Anstandgefühl, daß es sich für sie wohl nicht recht schicken möchte, ihn im ganzen Saale aufzusuchen, ihm gewissermaßen nachzulaufen, und daß es daher vielleicht am beßten wäre, wenn der Cousin die Güte habe, ihm zu sagen, daß er – doch die Tante, die, dem alten Grafen gleich, die Leutchen bald näher aneinander bringen wollte, und die Gottholds Schüchternheit ebenfalls bemerkt hatte, berechnete sehr richtig, daß diese sich bald verlieren werde, wenn ihm die schöne Aurora auf halbem Wege entgegen komme, und daher erwiederte sie auf deren Bedenklichkeiten lächelnd: Wir sind hier auf keinem Hofballe; auf dem Lande nehmen wir das nicht so genau; da sind wir ungebundener, natürlicher; wen wir, wenn auch ohne unsere Schuld, böse gemacht, den suchen wir auf, geben ihm freundlich die Hand, und machen ihn wieder gut; darum geh’, mein Goldkind, und damit Du nicht allein im Saale umherirrst, soll Dich Brunehild eskortiren.
Die Hofmarschallinn hatte mit ihrer tiefen Menschenkenntniß das Mädchen bei der schwachen Seite gefaßt;