»Ei! weil sie des Lebens müde sind,« erwiderte Jean Robert.
»Oh! Nein, mein Herr Dichter,« entgegnete der Polizeimann; »man ist nie des Lebens müde, und zum Beweise dient, daß man, je älter man wird, desto mehr daran hängt. Es gibt hundert Selbstmorde von jungen Leuten unter fünfundzwanzig Jahren gegen einen Selbstmord einen Greises über sechzig. Man tötet sich – es ist erbärmlich, dies sagen zu müssen! – der junge Mann, um seiner Geliebten einen Possen zu spielen, die Geliebte, um dem Liebhaber einen Possen zu spielen, der Liebhaber und die Geliebte, um den Eltern einen Possen zu spielen; ein erschrecklicher Possen, der, um ein Jahr, um sechs Monate, und acht Tages um eine Stunde verschoben, durch dies Liebe der Frau, durch die Rückkehr des jungen Mannes, durch die Einwilligung der Eltern unnötig geworden wäre. Früher war es nicht so: man kannte den Selbstmord nicht, oder man kannte ihn kannte das Mittelalter, das heißt ein Zeitraum von drei bis vier Jahrhunderten, zählt nicht zehn erwiesene Selbstmorde.
»Im Mittelalter,« bemerkte Jean Robert, »hatte man Klöster.«
»Vortrefflich! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, junger Mann. Man hatte eine große Trübsal, man fühlte einen großen Schmerz, man faßte einen Ekel gegen das Leben: der Mann wurde Mönch, die Frau Nonne: das war die Art, sich zu erschießen, sich zu ersticken, sich zu ertränken. Hören Sie, heute soll ich im Bas-Meudon den Selbstmord von Mademoiselle Carmelite und Herrn Colombau constatiren. Nun woh . . . «
Die zwei jungen Leute bebten.
»Verzeihen Sie,« sagten sie gleichzeitig, Herrn Jackal unterbrechend.
»Was?«
»War Mademoiselle Carmelite nicht eine Schülerin von Saint-Denis?« fragte Salvator.
»Ganz richtig.«
»War Herr Colombau nicht ein junger bretonischer Edelmann?« fragte Jean Robert.
»Gewiß.«
»Dann begreife ich den Brief, den diesen Morgen Fragola erhalten hat,« murmelte Salvator.
»Oh! armer Junge,« sagte Jean Robert, »ich habe seinen Namen von Ludovic nennen hören.«
»Das Mädchen war aber ein Engel!« sprach Salvator.
»Der junge Mann war aber ein Heiliger!« rief Jean Robert.
»Ei! Freilich,« erwiderte der alte Voltairianer, »darum sind sie zum Himmel aufgestiegen; die armen Kinder fanden sich auf der Erde nicht an ihrem Platze.«
Und er sprach diese Worte mit einer seltsamen Mischung von Spott und Rührung.
»Oh! mein Gott!« sagte Jean Robert, »der arme Ludovic wird in Verzweiflung sein.«
»Oh! mein Gott!« murmelte Salvator, »die arme Fragola wird sehr traurig sein.«
Doch sind Ursachen dieses Todes ein Geheimnis oder können Sie uns dieselben mitteilen?« fragte Jean Robert.
»Die Katastrophe in allen ihren Einzelheiten? Oh! mein Gott, ja; Sie werden nur die Namen zu ändern haben, um ein Gedicht oder einen Roman daraus zu machen; ich stehe Ihnen dafür, daß Stoff dazu vorhanden ist.«
Und während man vom Quai de la Conférence nach dem Pont de Sèvres fuhr, gab Herr Jackal den aufmerksamen jungen Leuten folgende Erzählung, welche indeß sie beim ersten Anblick ganz außerhalb der Ereignisse, die wir mitteilen, zu sein scheint, sich doch am Ende, ein wenig früher oder ein wenig später, mit ihnen verbinden wird.
Unsere Leser mögen sich also gedulden; wir sind erst beim Prologe des Buches, das wir schreiben, und wir müssen nothwendig unsern Personen ihre Stellung geben.
XXXVI
Wo bewiesen ist, daß man zufällig und einmal unter hundert gute Nachbarn treffen kann
Das 12. Arrondissement war im Jahre 1827 und ist noch heute das ärmste Arrondissement der Hauptstadt, wie man dies aus dem von der Administration der öffentlichen Unterstützung nach der letzten Zählung veröffentlichten numerischen Etat ersehen kann.
So ist im 1. Arrondissement die Zahl der dürftigen Bevölkerung 3.707 Individuen auf 112.740 Einwohner,während im 12. Arrondissement aus eine Bevölkerung von 95.243 die Zahl der Dürftigen 12.204 beträgt.
Bedenkt man, daß in diesem Arrondissement die größte Anzahl von Schuhflickern, Kutschern, Lumpensammlern, Trödlern, Wasserträgern, Lastträgern und Tagelöhnern aller Art wohnt, so wird man sehen, daß wir nicht übertreiben, wenn wir sagen, dieses Quartier sei heute noch das elendste.
Dieses Quartier bietet in der Vogelperspective eine beinahe viereckige Form; es ist abgetheilt in vier Quartiere, welche den Namen Quartier de l’Observatoire, Quartier Saint-Jacques, Quartier du Jardin des Planetes und Quartier Saint-Marcel führen.
Sowie wir in unserer Erzählung vorrücken, werden wir, da ein großer Theil der Ereignisse dieser Geschichte im 12. Arrondissement vorgehen soll, nach und nach unseren Lesern die Physiognomie dieser Quartiere zeigen.
Bemerken wir vor Allem: einer der pittoreskestien Theile ist der zwischen der Rue du Val-de-Grace und der Rue de la Bourbe begriffene des Quartier Saint-Jacques.
Steigt man die Rue Saint-Jacques von der Rue du Val-de-Grace zum Faubourg hinauf, so führen in der That alle Häuser der rechten Seite, alt, häßlich und schlecht gebaut, zu bezaubernden Gärten, wie sich kaum noch einige um gewisse aristokratische Hotels in Paris finden.
In ein zwischen den Nummern 330 und 350 der Rue Saint-Jacques liegendes Haus wollen wir unsern Leser geleiten, und Jeder, der an das Quartier Saint-Jacques denkend aus Gewohnheit sich die üblen Gerüche des Elends zu Gehirn steigen fühlt, wird, wie wir hoffen, entzückt sein, wenn er mit und den Duft der Rosen und Jasmine athmet, der durch die Fenster dieser bevorrechteten Wohnungen, welche auf einen wahren Lichtwinkel des irdischen Paradieses gehen, eindringt.
Die Facade des Hauses, das die Helden der von Herrn Jackal erzählten unglücklichen Geschichte, bewohnen, hatte jenen traurigen Ton, mit dem die Zeit und der Regen die alten Mauern von Paris überziehen.
Man trat in das Haus durch eine kleine, schmale Thüre ein, und man gelangte in einen selbst mitten am Tage finsteren Gang.
Derjenige, welcher zum ersten Male in diesen Gang gekommen wäre, würde ihn für den gefährlichen Weg zu der Werkstätte eines Falschmünzers gehalten haben; doch die letzte Schwelle überschreitend, hätte sich der Forscher sogleich in einer Art von Eden gesehen.
Aus dem Gange ausmündend, trat man in der That in einen Hof ein, der zu einen großen Garten führte; hier war man wahrhaft geblendet, da man ein kleines weißes Haus mit grünen Läden, die Seiten geschmückt mit emporrankenden Rosen, mit Gaisblatt und Waldreben, sah.«
Das Haus bestand aus einem Erdgeschoße und zwei Stockwerken, deren Fenster, vermöge der entzückenden, Lage des kleinen Gebäudes, alle auf den Garten gingen; diese drei Stockwerke, das Erdgeschoß einbegriffen, bildeten sechs Wohnungen, jede gleichmäßig auf drei Zimmern und einer Küche bestehend.
Vier von diesen Wohnungen, die zwei des Erdgeschosses und die des ersten Stockes, hatten Arbeiterfamilien inne, welche, nüchtern und geordnet, statt sich vor der Barrière zu betrinken wie ihre Werkstattkameraden, ihren Sonntag dem Anbau eines Gartenstückchens weihten, das die Zubehör ihrer bescheidenen Wohnung bildete.
Im zweiten Stocke wohnten auf demselben Boden, der eine rechts, die andere links, die zwei Hauptpersonen dieser Geschichte.
Derjenige, welcher die Zimmer links bewohnte, war ein junger Mann von zwanzig bis dreiundzwanzig Jahren, – ein hübscher Mensch mit treuherzigem Gesichte, mit hellblauen Augen und blonden Haaren, welche gerade auf seine viereckigen Schultern fielen. Er war eher klein, als groß von Wuchs; doch die Breite seiner Schultern bezeichnete bei ihm eine ungewöhnliche Stärke. Er war geboren in Quimper; es wäre aber eine unnütze Mühe gewesen, die Augen auf seinen Geburtsschein zuwerfen, um zu sehen, daß er Bretagner, so sehr trug sein Gesicht das Gepräge der Energie und der Redlichkeit der schönen gälischen Race an sich.
Sein Vater, ein armer alter Edelmann, der zurückgezogen in einem Thurme,