Doch hatte sie trotz der Häuser, die wie Punkte die Landschaft schmückten, noch immer keine Menschen gesehen. Die Häuser, die Ceres am nächsten waren, wirkten leer und unberührt, wie ein Raum, der nur vor wenigen Augenblicken verlassen worden war. Ceres ging weiter gen Spitze des Hügels, dorthin, wo die Türme auf einem großen Rasen einen Kreis bildeten. Sie konnte zwischen ihnen hindurch über die ganze restliche Insel blicken.
Doch sie blickte nicht in diese Richtung. Ceres starrte vielmehr auf die Mitte des Kreises, wo eine Figur in einem Kleid aus reinem Weiß stand. Die Figur war nicht wie in ihrer Vision verschwommen oder verwackelt. Sie war dort, so klar und echt wie sie selbst hier war. Ceres ging auf die Person zu. Es konnte nur sie sein.
„Mutter?“
„Ceres.“
Die Figur in weiß warf sich im selben Moment wie Ceres nach vorne und sie trafen sich in einer gewaltigen Umarmung, die für Ceres all die Dinge ausdrückte, die sie nicht zu sagen vermochte: wie sehr sie sich nach diesem Moment gesehnt hatte, wie viel Liebe dort in ihr war, wie unglaublich es war, diese Frau zu treffen, die sie nur einmal in einer Vision gesehen hatte.
„Ich wusste, dass du kommen würdest“, sagte die Frau, ihre Mutter als sie sich voneinander lösten, „aber es zu wissen unterscheidet sich dann doch sehr davon, dich wirklich zu sehen.“
Sie zog die Kapuze ihres Kleides zurück und Ceres musste sich verblüfft fragen, wie diese Frau ihre Mutter sein konnte. Ihre Schwester vielleicht, denn sie hatten das gleiche Haar und die gleichen Gesichtszüge. Es war für Ceres beinahe wie ein Blick in den Spiegel. Doch schien sie zu jung, um Ceres’ Mutter sein zu können.
„Ich verstehe nicht“, sagte Ceres. „Du bist meine Mutter?“
„Das bin ich.“ Sie beugte sich nach vorne, um sie erneut zu umarmen. „Ich weiß, dass es dir seltsam erscheinen muss, aber es ist wahr. Meine Art kann eine lange Zeit leben. Ich bin Lycine.“
Ein Name. Endlich kannte Ceres den Namen ihrer Mutter. Das bedeutete ihr mehr als alles zusammengenommen. Das allein war es wert, diese Reise unternommen zu haben. Sie wollte einfach nur dastehen und ihre Mutter für immer anstarren. Auch wenn sie Fragen hatte. So viele, dass sie nur so aus ihr heraussprudelten.
„Was ist dieser Ort?“ fragte sie. „Warum bist du allein hier? Und warte, was meinst du mit ‚deiner Art’?“
Lycine lächelte und setzte sich in das Gras. Ceres setzte sich zu ihr und als sie das tat, bemerkte sie, dass es nicht einfach nur Gras war. Sie konnte die in einem Mosaik angeordneten Steinfragmente unter dem Gras sehen. Sie mussten schon lange von der Wiese bedeckt sein.
„Es ist nicht einfach, alle deine Frage zu beantworten“, sagte Lycine. „Vor allem, wenn ich selbst so viele Fragen habe, zu dir, deinem Leben. Alles, Ceres. Aber ich werde es versuchen. Sollen wir es auf die alte Art versuchen? Jeder eine Frage abwechselnd?“
Ceres wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, doch ihre Mutter schien noch nicht fertig zu sein.
„Erzählen sie dort draußen immer noch die Geschichten der Uralten?“
„Ja“, sagte Ceres. Sie hatten den Geschichten über die Kampfherrn und ihre Unternehmungen im Stadion immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, doch wusste sie dennoch einiges über das, was man über die Uralten sagte: diejenigen, die schon vor Anbeginn der Menschheit existiert hatten, die manchmal wie Menschen aussahen und manchmal doch so anders. Die so viel aufgebaut hatten und es dann verloren hatten. „Warte, meinst du damit, dass du – “
„Eine der Uralten bist, ja“, antwortete Lycine. „Das hier war einst eine unserer Stätten bevor... nun, es gibt noch immer Dinge, über die man besser nicht sprechen sollte. Außerdem schuldest du mir eine Antwort. Erzähl mir, wie dein Leben ausgesehen hat. Ich konnte nicht da sein, aber ich habe viel Zeit damit verbracht, es mir vorzustellen.“
Ceres wollte es versuchen, wenn sie auch nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sie erzählte Lycine von der Schmiede ihres Vaters, in der sie aufgewachsen war und von ihren Brüdern. Sie sprach von der Rebellion und vom Stadion. Sie schaffte es sogar über Rexus und Thanos zu berichten, auch wenn ihr die Worte nur heiser und bruchstückhaft über die Lippen kamen.
„Mein Liebling“, sagte ihre Mutter und legte eine Hand auf die ihre. „Ich wünschte, ich hätte dir diesen Schmerz ersparen können. Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können.“
„Warum konntest du das nicht?“ fragte Ceres. „Bist du die ganze Zeit hier gewesen?“
„Das bin ich“, sagte Lycine. „Das war einmal eine der Stätten meines Volkes, früher. Die anderen haben die zurückgelassen. Auch ich habe das, zumindest für eine gewisse Zeit, getan, doch in den letzten Jahren war dieser Ort eine Art Zufluchtsstätte. Und ein Ort um zu warten natürlich.“
„Zu warten?“ fraget Ceres. „Du meinst auf mich?“
Sie sah, wie ihre Mutter nickte.
„Die Menschen sprechen über das Schicksal, als wäre es ein Geschenk“, sagte Lycine, „doch es ist auch eine Art Gefängnis. Verstehe, was geschehen muss und du verlierst die Wahlmöglichkeiten, die dir bereitstehen, wenn du es nicht gekannt hättest, egal wie sehr du es dir auch wünschtest...“ Ihre Mutter schüttelte den Kopf und Ceres konnte die Traurigkeit darin sehen. „Jetzt ist nicht die Zeit, etwas zu bereuen. Meine Tochter ist hier und uns steht nur eine gewisse Zeit zur Verfügung, in der du das lernen kannst, für das du gekommen bist.“
Sie lächelte und nahm Ceres’ Hand.
„Geh mit mir ein Stück.“
***
Ceres hatte das Gefühl, dass sie und ihre Mutter schon seit Tagen die magische Insel erkundeten. Die Aussicht war atemberaubend genauso wie das Zusammensein mit ihrer Mutter. Es fühlte sich wie ein Traum an.
Auf dem Weg sprachen sie die meiste Zeit über die Kraft. Ihre Mutter versuchte sie ihr zu erklären und Ceres versuchte es zu verstehen. Das seltsame war, dass, während ihre Mutter sprach, Ceres das Gefühl hatte, dass ihre Worte ihre Kraft noch verstärkten.
Selbst jetzt, als sie liefen, fühlte Ceres die Wallungen, die wie Rauch in ihr aufstiegen, wenn ihre Mutter ihre Schulter berührte. Sie musste lernen, sie zu kontrollieren, sie war hierher gekommen, um genau das zu lernen, doch schien es verglichen mit der Möglichkeit ihre Mutter endlich kennenzulernen, so unwichtig.
„Unser Blut hat dir die Kraft verliehen“, sagte Lycine. „Die Inselbewohner haben versucht sie freizusetzen, oder?“
Ceres dachte an Eoin und an die seltsamen Übungen, die sie hatte machen müssen. „Ja.“
„Dafür dass sie nicht Menschen unseres Blutes sind, verstehen sie die Welt recht gut“, sagte ihre Mutter. „Doch gibt es Dinge, die selbst sie dir nicht zeigen können. Hast du Dinge zu Stein werden lassen? Das zählt zu meinen Gaben, ich würde also vermuten, dass auch du diese Fähigkeit besitzt.“
„Zu Stein werden lassen?“ fragte Ceres. Sie verstand nicht ganz. „Bisher habe ich Dinge in Bewegung versetzt. Ich war schneller und stärker. Und – “
Sie wollte den Satz nicht zu Ende bringen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter schlecht von ihr dachte.
„Und deine Kraft hat getötet, wenn du in Gefahr schwebtest?“ sagte Lycine.
Ceres nickte.
„Schäme dich nicht dafür, Tochter. Ich kenne dich erst ein kleines bisschen, doch weiß ich, wozu du bestimmt worden bist. Du bist ein guter Mensch. Alles was ich mir erhofft hatte. Und was das Versteinern anbelangt...“