Dann sah sie April, Hände und Füße noch immer gefesselt, die das Gewehr aufhob. Sie hörte es gegen Petersons Kopf krachen.
Aber das Monster drehte sich um und warf sich auf April. Er hielt ihr das Gesicht unter Wasser.
Ihre Tochter würde ertrinken.
Riley fand einen spitzen Stein.
Sie sprang auf Peterson zu und schlug ihm damit gegen den Kopf.
Er fiel und sie warf sich auf ihn.
Sie ließ den Stein immer wieder auf Petersons Gesicht niedersausen.
Der Fluss färbte sich dunkel mit Blut.
Aufgebracht durch die Erinnerung lief Riley schneller.
Sie war stolz auf ihre Tochter. April hatte an diesem fürchterlichen Tag Mut und Einfallsreichtum gezeigt. Sie war auch in anderen gefährlichen Situationen mutig gewesen.
Aber jetzt war April wütend auf Riley.
Und Riley konnte nicht verhindern, dass sie sich fragte, ob sie guten Grund dazu hatte.
*
Riley fühlte sich fehl am Platze bei Lois Penningtons Beerdigung am späten Nachmittag.
Zum einen war sie über die Jahre sehr selten in der Kirche gewesen. Ihr Vater war ein verbitterter Ex-Marine gewesen, der nur an sich selbst und sonst nichts anderes glaubte. Sie hatte den Großteil ihrer Kindheit und Jugend bei ihrer Tante und ihrem Onkel verbracht, die versucht hatten, Riley mit zur Kirche zu nehmen, aber sie war zu rebellisch gewesen.
Soweit es Beerdigungen betraf, hasste Riley sie einfach. Sie hatte zu viel von der brutalen Realität des Todes gesehen und ihr erschienen Beerdigungen falsch und unecht. Sie ließen den Tod immer so sauber und friedlich erscheinen.
Ein vollkommen falscher Eindruck, dachte sie wieder. Das Mädchen war auf brutale Weise gestorben, sei es durch ihre eigene Hand oder jemand anderen.
Aber April hatte darauf bestanden zu gehen und Riley konnte sie nicht alleine lassen. Was ihr ironisch erschien, denn genau in diesem Moment war es eher Riley, die sich alleine fühlte. Sie saß neben dem Gang in einer der hinteren Bänke der gefüllten Kapelle. April war weiter vorne, in der Reihe direkt hinter der Familie, so nahe bei Tiffany wie sie nur konnte. Aber Riley war froh, dass April bei ihrer Freundin war und es machte ihr nichts aus, alleine zu sitzen.
Sonnenstrahlen erhellten die Fenster und der Sarg war über und über mit Blumen und großen Kränzen bedeckt. Der Gottesdienst war würdevoll und der Chor sang gut.
Der Priester predigte über Glauben und Erlösung und versicherte allen, dass Lois nun an einem besseren Ort war. Riley hörte ihm nicht wirklich zu. Sie sah sich nach Anzeichen um, die einen Hinweis darauf gaben, wie Lois Pennington gestorben war.
Gestern war ihr aufgefallen, dass Lois' Eltern leicht voneinander getrennt saßen und sich nicht berührten. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie sie die Körpersprache deuten sollte. Aber nun lag Lester Penningtons Arm in einer warmen Geste des Trostes um Eunices Schultern. Die beiden schienen ein normales, trauerndes Elternpaar zu sein.
Wenn etwas in der Pennington Familie nicht stimmte, dann konnte Riley es nicht sehen.
Seltsamerweise hinterließ das ein Gefühl des Unbehagens in ihr.
Sie hielt sich selbst für einen aufmerksamen Beobachter der menschlichen Natur. Falls Lois Selbstmord begangen hatte, dann war ihr Familienleben vermutlich gestört gewesen. Aber sie konnte keine Anzeichen dafür entdecken – nur normale Zeichen der Trauer.
Der Priester schaffte es, seine Predigt zu beenden, ohne auch nur einmal die vermutete Todesursache zu erwähnen.
Dann folgte eine Reihe von kurzen, tränenreichen Beiträgen von Freunden und Verwandten. Sie sprachen von Trauer und glücklicheren Zeiten, manchmal erinnerten sie sich auch an humorvolle Ereignisse, die ein trauriges, leises Lachen in der Trauergemeinde hervorriefen.
Aber nichts über Selbstmord, dachte Riley.
Etwas kam ihr nicht ganz richtig vor.
Sollte nicht jemand, der Lois nahe gestanden hatte, anerkennen, dass es Dunkelheit in ihren letzten Tagen gegeben hatte – ein Kampf gegen Depression, gegen innere Dämonen, unbeantwortete Hilferufe? Sollte nicht jemand darauf hinweisen, dass ihr tragischer Tod eine Lektion für andere sein sollte, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen, bevor sie über Selbstmord nachdachten.
Aber niemand sagte etwas dergleichen.
Niemand wollte darüber reden.
Sie schienen alle zu beschämt oder zu betroffen zu sein.
Vielleicht glaubten sie es selber nicht ganz.
Die Wortbeiträge kamen zu einem Ende und es wurde Zeit für die Verabschiedung am Sarg. Riley blieb sitzen. Sie war sich sicher, dass das Beerdigungsinstitut gute Arbeit geleistet hatte. Was auch immer von der armen Lois übrig war, würde nicht so aussehen, wie in dem Moment, in dem sie in der Garage gefunden wurde. Riley wusste aus Erfahrung, wie eine gehängte Leiche aussah.
Schließlich sagte der Priester seine letzten Segenssprüche und der Sarg wurde hinausgetragen. Die Familie ging zusammen hinterher und jedem blieb es überlassen zu gehen.
Als Riley nach draußen trat, sah sie, wie Tiffany und April sich weinend umarmten. Dann sah Tiffany Riley und eilte auf sie zu.
"Gibt es wirklich nichts, was Sie tun können?", fragte das Mädchen mit erstickter Stimme.
Riley war erschüttert, schaffte es aber zu antworten, "Nein, es tut mir leid."
Bevor Tiffany weiter bitten konnte, rief ihr Vater ihren Namen. Tiffanys Familie kletterte in eine schwarze Limousine. Tiffany schloss sich ihnen an und der Wagen fuhr los.
Riley wandte sich an April, die sich weigerte sie anzusehen.
"Ich nehme den Bus nach Hause", sagte April.
April ging davon und Riley versuchte nicht, sie aufzuhalten. Mit einem Klumpen im Magen, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto.
*
Das Abendessen war bei weitem kein so angenehmes Ereignis, wie noch zwei Tage zuvor. April sprach immer noch nicht mit Riley und auch sonst kaum mit jemandem. Ihre Trauer war ansteckend. Ryan und Gabriela waren ebenfalls niedergedrückt.
Plötzlich meldete sich Jilly.
"Ich habe heute in der Schule eine Freundin gefunden. Sie heißt Jane. Sie ist adoptiert, genau wie ich."
Aprils Miene erhellte sich.
"Hey, das ist super, Jilly", sagte sie.
"Ja. Wir haben viel gemeinsam. Viel worüber wir reden können."
Riley spürte, wie sich auch ihre Laune hob. Es war gut, dass Jilly anfing, Freunde zu finden. Und Riley wusste, dass April sich um Jilly Sorgen gemacht hatte.
Die beiden Mädchen sprachen ein wenig über Jane. Dann wurden alle wieder still und es war so bedrückt wie zuvor.
Riley wusste, dass Jilly versucht hatte, die dunkle Stimmung zu durchbrechen, April aufzumuntern. Aber das junge Mädchen sah nun sehr besorgt aus. Riley nahm an, dass die gerade spürbare Spannung in ihrer neuen Familie für sie alarmierend war. Jilly machte sich womöglich Sorgen, dass sie wieder verlieren könnte, was sie gerade erst gefunden hatte.
Ich hoffe, damit hat sie nicht Recht, dachte Riley.
Nach dem Essen gingen die Mädchen nach oben und Gabriela räumte die Küche auf. Ryan goss sich und Riley jeweils ein Glas Bourbon ein und sie setzen sich ins Wohnzimmer.
Sie schwiegen beide eine Weile.
"Ich gehe nach oben und rede mit April", sagte Ryan dann.
"Warum?",