April ging direkt auf die Seitentür der Garage zu. Absperrband war quer vor die Tür gespannt.
"April, komm da weg!", sagte Riley.
April ignorierte sowohl das Absperrband, als auch ihre Mutter, und drehte den Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen und schwang auf. April duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging in die Garage. Riley eilte hinter ihr her, in der Absicht sie zurechtzuweisen. Stattdessen wurde sie von ihrer Neugier übermannt und sie sah sich vorsichtig in der Garage um.
Es standen keine Autos in der Garage, was die große Garage auf unheimliche Weise höhlenartig wirken ließ. Gedämpftes Licht schien durch mehrere Fenster.
April zeigte auf eine Ecke.
"Tiffany hat mir gesagt, dass sie Lois dort gefunden haben", sagte April.
Tatsächlich war Absperrband auf dem Boden zu sehen.
Ein großer Querbalken verlief unter dem Dach und eine Leiter lehnte an der Wand.
"Komm", sagte Riley. "Wir sollten nicht hier sein."
Sie führte ihre Tochter nach draußen und schloss die Tür. Während sie und April zurück zu ihrem Wagen gingen, visualisierte Riley die Szene. Es war einfach sich vorzustellen, wie das Mädchen auf die Leiter geklettert war und sich gehängt hatte.
Oder war das wirklich, was passiert war? fragte sie sich.
Sie hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.
Trotzdem spürte sie ein leichtes Kribbeln des Zweifelns.
*
Als sie kurz darauf wieder zu Hause waren, rief Riley die örtliche Gerichtsmedizinerin Danica Selves an. Sie war seit Jahren mit Danica befreundet. Als Riley sie nach dem Lois Pennington Fall fragte, klang Danica überrascht.
"Warum bist du so neugierig?", fragte Danica. "Hat das FBI Interesse an dem Fall?"
"Nein, es ist etwas Persönliches."
"Persönlich?"
Riley zögerte und sagte dann, "Meine Tochter ist gut mit Lois' Schwester befreundet und kannte auch Lois ein wenig. Sowohl sie, als auch Lois' Schwester können nicht glauben, dass sie Selbstmord begangen hat."
"Ich verstehe", sagte Danica. "Nun, die Polizei hat keine Anzeichen eines Kampfes gefunden. Und ich habe die Tests und die Autopsie selber durchgeführt. Laut den Ergebnissen der Blutuntersuchungen, hat sie eine große Dosis Alprazolam kurz vor ihrem Tod genommen. Ich nehme an, dass sie einfach so wenig wie möglich mitbekommen wollte. Als sie sich gehängt hat, war ihr vermutlich bereits egal, was sie tat. Es wird einfach so gewesen sein."
"Also ist es wirklich ein klarer Fall", sagte Riley.
"Scheint mir so", bestätigte Danica.
Riley bedankte sich und beendete den Anruf. In dem Moment kam April mit einem Taschenrechner und einem Stück Papier in der Hand die Treppe herunter.
"Mom, ich denke, ich habe es bewiesen!", rief sie aufgeregt. "Es kann nur Mord gewesen sein!"
April setzte sich neben Riley und zeigte ihr einige Zahlen, die sie aufgeschrieben hatte.
"Ich habe online recherchiert", sagte sie. "Ich habe herausgefunden, dass von hunderttausend Studenten 7,5 Studenten Selbstmord begehen. Das sind 0,075 Prozent. Aber es sind nur etwa siebenhundert Studenten in Byars und in den letzten Monaten haben angeblich drei Selbstmord begangen. Das sind etwa 0,34 Prozent – was siebenundfünfzig Mal mehr als der Durchschnitt ist! Das ist unmöglich!"
Rileys Mut sank. Sie wusste es zu schätzen, dass April sich so viele Gedanken darum machte. Es erschien ihr sehr erwachsen.
"April, ich denke deine Rechnung stimmt, aber …"
"Aber was?"
Riley schüttelte den Kopf. "Das beweist leider nichts."
Aprils Augen weiteten sich ungläubig.
"Was meinst du damit, das beweist nichts?"
"In der Statistik werden diese Fälle Ausreißer genannt. Sie sind die Ausnahmen zur Regel und gehen gegen den Durchschnitt. Es ist wie der letzte Fall, an dem ich gearbeitet habe – der Giftmörder, erinnerst du dich? Die meisten Serienmörder sind Männer, aber das war eine Frau. Und die meisten Mörder sehen ihren Opfern beim Sterben zu, aber das war ihr nicht wichtig. Es ist hier das Gleiche. Es ist nicht überraschend, dass es einige Colleges gibt, an denen mehr Studenten Selbstmord begehen als der Durchschnitt vermuten lässt."
April starrte sie schweigend an.
"April, ich habe gerade mit der Gerichtsmedizinerin telefoniert, die die Autopsie durchgeführt hat. Sie ist sich sicher, dass Lois' Tod ein Selbstmord war. Und sie ist gut in ihrem Job. Sie ist eine Expertin. Wir müssen ihrem Urteil vertrauen."
Aprils Gesicht wurde rot vor Wut.
"Ich verstehe nicht, warum du nicht einmal meinem Urteil trauen kannst."
Dann stürmte sie wieder nach oben.
Wenigstens ist sie sich sicher, dass sie weiß, was passiert ist, dachte sie stöhnend.
Das war mehr, als Riley von sich sagen konnte.
Ihre Instinkte schwiegen weiterhin.
KAPITEL VIER
Es passierte schon wieder.
Das Monster namens Peterson hielt April irgendwo vor ihr gefangen.
Riley kämpfte sich durch die Dunkelheit. Jeder Schritt erschien ihr langsam und mühsam, aber sie wusste, dass sie sich beeilen musste.
Mit der Schrotflinte über der Schulter stolperte Riley durch die Dunkelheit einen matschigen Hügel hinunter. Plötzlich sah sie sie. Peterson stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Nur wenige Schritte von ihm entfernt war April halb im Wasser, ihre Hände und Füße gefesselt.
Riley griff nach ihrem Gewehr, aber Peterson hob eine Pistole und zielte direkt auf April.
"Denk nicht einmal dran", rief er. "Ein Schritt und es ist vorbei."
Riley wurde von Panik ergriffen. Wenn sie das Gewehr hob, würde Peterson April töten, noch bevor sie feuern konnte.
Sie ließ das Gewehr auf den Boden fallen.
Die Angst auf dem Gesicht ihrer Tochter würde sie ewig verfolgen …
Riley hörte auf zu rennen und lehnte sich keuchend nach vorne.
Es war früh am Morgen und sie hatte sich zum Joggen aufgemacht. Aber diese schreckliche Erinnerung hatte sie innehalten lassen.
Würde sie diesen furchtbaren Moment jemals vergessen?
Würde sie jemals aufhören sich schuldig zu fühlen, weil sie April in tödliche Gefahr gebracht hatte?
Nein, dachte sie. Und so sollte es auch sein. Ich darf es nie vergessen.
Sie atmete die beissende, kalte Luft ein und aus, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann ging sie weiter den vertrauten Waldweg entlang. Blasses Morgenlicht fiel durch die Bäume.
Der städtische Park lag ganz in der Nähe und war einfach zu erreichen. Riley kam oft zum Laufen her. Die Bewegung half meist dabei, die Geister und Dämonen vergangener Fälle aus ihrem Kopf zu verbannen. Aber heute hatte sie den gegenteiligen Effekt.
Alles was am Tag zuvor passiert war – der Besuch bei den Penningtons, der Blick in die Garage, und Aprils Wut auf Riley – hatte hässliche Erinnerungen wieder aufgewühlt.
Und alles meinetwegen, dachte Riley, die wieder in ein leichtes Joggen fiel.
Aber dann erinnerte sie sich an das, was als Nächstes an dem Fluss geschehen war.
Petersons Waffe hatte eine Fehlfunktion