Riley wusste, dass sie ihre Worte mit Bedacht wählen musste. Sie war nicht im offiziellen Auftrag hier – tatsächlich hätten ihre Vorgesetzten in Quantico diesen Besuch vermutlich nicht genehmigt. Aber vielleicht konnte sie verhindern, dass Autrey das herausfand.
"Ein anderes Familienmitglied hat seine Zweifel geäußert", sagte sie.
Es bestand kein Grund ihm zu sagen, dass es Lois' kleine Schwester gewesen war.
"Wie bedauerlich", sagte er.
Dieses Wort scheint er zu mögen – bedauerlich, dachte Riley.
"Was können Sie mir über Lois Pennington erzählen?", fragte Riley.
Autrey schien nun fast gelangweilt, als wären seine Gedanken gerade woanders.
"Nun, sicherlich nichts, was Ihnen nicht auch die Familie schon erzählt hat", sagte er. "Ich kannte sie nicht persönlich, aber …"
Er wandte sich an seinen Computer und fing an zu tippen.
"Sie scheint eine vollkommen normale Erstsemester-Studentin gewesen zu sein", sagte er mit Blick auf den Bildschirm. "Ausreichend gute Noten. Keine Vermerke. Obwohl ich sehe, dass Sie Beratung aufgrund von Depressionen bekommen hat."
"Aber sie ist nicht der einzige Selbstmord an dieser Schule dieses Jahr", sagte Riley.
Autreys Miene verdunkelte sich leicht. Er sagte nichts.
Bevor sie losgefahren war, hatte Riley sich die beiden Selbstmorde näher angesehen, die Tiffany erwähnt hatte.
"Deanna Webber und Cory Linz haben sich angeblich ebenfalls im letzten Semester umgebracht", sagte Riley. "Cory ist hier auf dem Campus gestorben."
"'Angeblich'?", fragte Autrey. "Ein recht bedauerliches Wort, wie ich finde. Ich habe nichts Gegenteiliges gehört."
Er wandte sich leicht von Riley ab, als wolle er ihre Anwesenheit ignorieren.
"Ms. Paige––" begann er.
"Agentin Paige", korrigierte Riley.
"Agentin Paige – Ich bin sicher, dass jemand wie Sie sich darüber im Klaren ist, dass die Selbstmordrate unter Studenten in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Selbstmord ist mittlerweile die dritthäufigste Todesursache unter Menschen dieser Altersgruppe. Es gibt mehr als tausend Selbstmorde pro Jahr in Colleges."
Er hielt inne, als wolle er die Tatsache sinken lassen.
"Und natürlich", fuhr er fort, "erleben einige Schulen gewisse Cluster in einem bestimmten Jahr. Byars ist eine fordernde Schule. Es ist bedauerlich, aber leider unvermeidbar, dass unser Anteil an Selbstmorden leicht höher liegt."
Riley unterdrückte ein Lächeln.
Die Zahlen, die April am Vortag recherchiert hatte, würden jetzt hilfreich sein.
April würde sich freuen, dachte sie.
Sie sagte, "Der nationale Durchschnitt von College Selbstmorden liegt bei etwa sieben Komma fünf auf hunderttausend. Aber alleine in diesem Jahr haben sich drei Studenten von ihren siebenhundert das Leben genommen. Das ist das Siebenundfünfzigfache des nationalen Durchschnitts."
Autrey zog eine Augenbraue hoch.
"Nun, wie Sie wahrscheinlich wissen, gibt es immer––"
"Ausreißer", sagte Riley, die es wieder schaffte, nicht zu lächeln. "Ja, ich weiß alles über Ausreißer. Trotzdem erscheint mir die Selbstmordrate an Ihrer Schule als äußerst – bedauerlich."
Autrey sah schweigend an ihr vorbei.
"Dekan Autrey, ich habe das Gefühl, dass es Ihnen nicht gefällt, eine FBI Agentin hier zu haben", sagte sie.
"Das tut es tatsächlich nicht", sagte er. "Sollte ich mich anders fühlen? Es ist eine Verschwendung Ihrer und meiner Zeit und auch eine Verschwendung von Steuergeldern. Und Ihre Anwesenheit hier könnte den Eindruck erwecken, es wäre etwas im Argen. Ich kann Ihnen versichern, das ist hier am Byars College nicht der Fall."
Er lehnte sich über seinen Schreibtisch zu Riley.
"Agentin Paige, von welcher Abteilung des FBI kommen Sie genau?"
"BAU, Einheit für Verhaltensanalyse."
"Ah. Direkt neben Quantico. Nun, dann sollten Sie vielleicht im Hinterkopf behalten, dass viele unserer Studenten aus Politikerfamilien kommen. Einige ihrer Eltern haben erheblichen Einfluss auf die Regierung – das FBI eingeschlossen. Ich bin sicher, wir wollen beide nicht, dass diese Art von Sache ihnen zugetragen wird."
"Diese Art von Sache?", fragte Riley.
Autrey drehte sich in seinem Stuhl hin und her.
"Solche Leute könnten dazu tendieren, sich bei Ihren Vorgesetzten zu beschweren", sagte er mit einem bedeutungsvollen Blick.
Riley spürte ein leichtes Unbehagen.
Er schien erraten zu haben, dass sie nicht in offiziellem Auftrag hier war.
"Es ist wohl besser keinen Staub aufzuwirbeln, wo kein Problem besteht", fuhr Autrey fort. "Ich sage das natürlich nur zu Ihrem eigenen Wohl. Es wäre mir ein schrecklicher Gedanke, sollten Sie Probleme mit Ihren Vorgesetzten bekommen."
Riley hätte fast laut aufgelacht.
Probleme mit ihren Vorgesetzten war Routine für sie.
Ebenso wie suspendiert oder gefeuert und wieder eingestellt zu werden.
Das machte Riley keine Angst.
"Ich verstehe", sagte sie. "Alles, um nur nicht dem Ruf der Schule zu schaden."
"Ich bin froh, dass wir uns verstehen", sagte Autrey.
Er stand auf, offensichtlich in der Erwartung, dass Riley gehen würde.
Aber Riley war nicht bereit zu gehen – noch nicht.
"Vielen Dank für Ihre Zeit", sagte sie. "Ich bin sofort weg, nachdem Sie mir die Kontaktinformationen für die Familien der vorangegangenen Selbstmorde gegeben haben."
Autrey starrte auf sie herunter. Riley starrte zurück, ohne sich aus ihrem Stuhl zu bewegen.
Autrey warf einen Blick auf seine Uhr. "Ich habe einen anderen Termin. Ich muss jetzt gehen."
Riley lächelte.
"Ich habe es ebenfalls eilig", sagte sie, mit Blick auf ihre eigene Uhr. "Also je schneller Sie mir die Informationen geben, desto schneller können wir beide mit unserem Tag fortfahren. Ich warte."
Autrey runzelte die Stirn, setzte sich dann aber wieder an seinen Computer. Er tippte ein wenig und dann war sein Drucker zu hören. Er reichte ein Blatt mit den Informationen an Riley.
"Ich fürchte, ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren müssen", sagte er.
Riley bewegte sich immer noch nicht. Ihre Neugier nahm zu.
"Dekan Autrey, Sie haben erwähnt, dass 'Byars Anteil an Selbstmorden leicht höher liegt.' Über wie viele Selbstmorde sprechen wir hier genau?"
Autrey antwortete nicht. Sein Gesicht wurde rot vor Wut, aber er hielt seine Stimme ruhig und kontrolliert.
"Ihre Vorgesetzten beim BAU werden von mir hören", sagte er.
"Natürlich", erwiderte Riley mit trockener Höflichkeit. "Vielen Dank für Ihre Zeit."
Riley verließ das Büro und das Verwaltungsgebäude. Diesmal fühlte sich die kalte Luft erfrischend und belebend an.
Autreys Versuche auszuweichen, hatten Riley davon überzeugt, dass sie ein ganzes Bündel von Probleme gefunden hatte.
Und Probleme waren Rileys Job.
KAPITEL SECHS
Sobald