Aber dann, aus irgendeinem Grund, wurde aus dem intellektuellen Puzzle das, was es wirklich war – eine entsetzliche, menschliche Tragödie, in der zwei unschuldige Frauen unter unvorstellbaren Qualen gestorben waren. Und sie fragte sich plötzlich: War es für sie genauso schlimm wie für mich?
Ihr Körper wurde mit Panik und Angst geflutet. Und Verlegenheit und Scham. Bill war ihr Partner und ihr bester Freund. Sie schuldete ihm so viel. Er hatte ihr in den letzten Wochen beigestanden, als sonst niemand da war. Sie hätte ohne ihn die Zeit im Krankenhaus nicht überlebt. Das Letzte was sie wollte, war, dass er sie in diesem Zustand der Hilflosigkeit sah.
Sie hörte April von der Hintertür aus rufen.
“Mom, wir müssen jetzt essen, sonst kommen wir zu spät.”
Sie hatte das dringende Bedürfnis zurückzurufen, “Mach dir dein eigenes Frühstück!”
Aber sie tat es nicht. Sie war von den vielen Kämpfen mit April erschöpft. Sie hatte es aufgegeben.
Sie stand auf und ging zurück in die Küche. Sie riss ein Küchentuch von der Rolle und nutze es um ihre Tränen wegzuwischen und sich die Nase zu putzen. Sie bereitet sich mental darauf vor zu kochen. Sie versuchte sich an die Worte ihres Therapeuten zu erinnern: Selbst Routineaufgaben werden viel Kraft verlangen, zumindest für den Anfang. Sie hatte sich vorgenommen einen Schritt nach dem anderen zu machen.
Zuerst kamen die Dinge aus dem Kühlschrank – der Karton mit den Eiern, die Packung Schinken, die Butterdose und das Marmeladenglas, weil April im Gegensatz zu ihr Marmelade mochte. Und so ging es weiter, bis sie fünf Schinkenstreifen in die Pfanne auf dem Herd legte und die Gasflamme entzündete.
Sie stolperte beim Anblick der gelb-blauen Flamme zurück. Sie schloss die Augen und alles kam auf einen Schlag zu ihr zurück.
Riley lag in dem engen Zwischenraum unter dem Haus; in einem kleinen, selbstgebauten Käfig. Die Propangasflamme war das einzige Licht, das sie sah. Den Rest der Zeit verbrachte sie in absoluter Dunkelheit. Der Boden bestand aus Erde. Die Dielen über ihr waren so tief, dass sie sich kaum hinhocken konnte.
Die Dunkelheit wurde nicht einmal dann durchbrochen, wenn er die kleine Tür öffnete und zu ihr in den Zwischenraum kroch. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte ihn atmen und grunzen. Er würde ihren Käfig öffnen und hineinklettern.
Dann würde er die Fackel entzünden. Sie konnte sein grausames und hässliches Gesicht in ihrem Licht sehen. Er quälte sie mit einem Teller erbärmlichen Essens. Wenn sie danach griff, stieß er ihr die Flamme entgegen. Sie konnte nicht essen ohne verbrannt zu werden…
Sie öffnete die Augen. Die Bilder waren mit offenen Augen weniger lebendig, aber sie konnte den anhaltenden Strom von Erinnerungen nicht verdrängen. Sie fuhr mechanisch fort das Frühstück zuzubereiten, ihr ganzer Körper zitternd vor Adrenalin. Sie war gerade dabei den Tisch zu decken, als sie wieder die Stimme ihrer Tochter rufen hörte.
“Mom, wie lange dauert es noch?”
Sie zuckte zusammen und der Teller glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden, wo er zersplitterte.
“Was ist passiert?” rief April, die neben ihr erschien.
“Nichts,” sagte Riley.
Sie räumte die Scherben weg und als sie und April zum Essen zusammensaßen, war die stille Feindseligkeit wie immer spürbar. Riley wollte den Kreis durchbrechen, zu April durchstoßen, ihr sagen, April, ich bin es, deine Mutter und ich liebe dich. Aber sie hatte es viele Male probiert und es dadurch nur schlimmer gemacht. Ihre Tochter hasste sie und sie konnte nicht verstehen warum – oder wie sie es ändern konnte.
“Was machst du heute?” fragte sie April.
“Was denkst du denn?” schnappte April. “Ich gehe zum Unterricht.”
“Ich meinte danach,” sagte Riley mit ruhiger, mitfühlender Stimme. “Ich bin deine Mutter. Ich will es einfach wissen. Das ist normal.”
“Nichts an unseren Leben ist normal.”
Sie aßen schweigend weiter.
“Du erzählst mir nie etwas,” sagte Riley.
“Du auch nicht.”
Das stoppte jede Hoffnung auf eine normale Unterhaltung.
Das ist fair, dachte Riley bitter. Es stimmte mehr, als April wusste. Riley hatte ihr nie über ihre Arbeit erzählt, ihre Fälle; sie hatte ihr nie über ihre Gefangenschaft erzählt, ihre Zeit im Krankenhaus oder warum sie jetzt “Urlaub” hatte. Alles was April wusste, war, dass sie die meiste Zeit mit ihrem Vater leben musste und den hasste sie noch mehr als Riley. Aber so sehr sie ihr auch mehr erzählen wollte, Riley dachte, es wäre das Beste wenn April keine Ahnung davon hatte, was ihre Mutter durchgemacht hatte.
Riley zog sich an und fuhr April zur Schule. Sie sprachen kein Wort während der Fahrt. Als sie April aussteigen ließ rief sie ihr nach, “Ich sehe dich dann um Zehn.”
April winkte ihr achtlos zu, während sie sich entfernte.
Riley fuhr zum nächstgelegenen Café. Es war Routine für sie geworden. Es war schwer für sie Zeit an einem öffentlichen Ort zu verbringen und sie wusste, dass das genau der Grund war, warum sie es tun musste. Das Café war klein und nie überfüllt, sogar an einem Morgen wie diesem, daher empfand sie es als nicht sehr bedrohlich.
Als sie dort saß und an ihrem Cappuccino nippte, erinnerte sie sich an Bills Bitte. Es war sechs Wochen her, verdammt nochmal. Das musste sich ändern. Sie musste sich ändern. Sie wusste nur nicht, wie sie das tun sollte.
Aber eine Idee fing an sich in ihrem Kopf zu formen. Sie wusste auch schon genau, was sie zuerst tun musste.
Kapitel 4
Die weiße Flamme der Propangasfackel bewegte sich vor Riley. Sie musste sich hin und her ducken um Verbrennungen zu entgehen. Die Helle blendete sie für alles andere und sie konnte nicht einmal mehr das Gesicht ihres Kidnappers sehen. Als die Flamme sich bewegte, schien es, als würde sie brennende Spuren in der Luft hinterlassen.
“Hör auf!” schrie sie. “Hör auf!”
Ihre Stimme wurde rau und kratzig vom Schreien. Sie fragte sich, warum sie ihren Atem verschwendete. Sie wusste, dass er nicht aufhören würde sie zu foltern bis sie tot war.
In dem Moment griff er nach einer Gashupe und betätigte sie direkt neben ihrem Ohr.
Eine Autohupe ertönte. Riley wurde abrupt zurück in die Gegenwart gebracht und sah, dass die Ampel an der Kreuzung Grün geworden war. Eine Reihe von Autos wartete hinter ihr, also drückte sie aufs Gas.
Riley, mit schwitzenden Händen, zwang sich dazu die Erinnerung zu verdrängen und sich bewusst zu machen, wo sie war. Sie war auf dem Weg um Marie Sayles zu besuchen, der einzigen anderen Überlebenden des unaussprechlichen Sadismus ihres Beinahe-Mörders. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich von den Flashbacks hatte überwältigen lassen. Es war ihr gelungen sich für anderthalb Stunden zu konzentrieren und sie hatte gedacht, es ginge ihr gut.
Riley erreichte Georgetown, fuhr vorbei an eleganten viktorianischen Häusern und parkte vor der Adresse, die Marie ihr über das Telefon gegeben hatte – einem rotem Backsteinhaus mit hübschen Erkerfenstern. Sie saß für einen Augenblick im Wagen und versuchte den Mut aufzubringen um zu klingeln.
Schließlich stieg sie aus. Als sie die Stufen zum Eingang erklomm, war sie froh Marie an der Türe auf sie warten zu sehen. Einfach aber elegant gekleidet lächelte Marie ihr matt zu. Sie sah erschöpft und angespannt aus. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren für Riley ein sicheres Zeichen, dass sie geweint hatte. Das war keine Überraschung.