Ketling war sich über den Zustand seines Herzens vollständig klar. Christine sagte sich, sei es aus Mangel an Mut, sei es, daß sie sich selbst täuschen wollte: ich liebe ihn nicht – und doch liebten sie sich innig. Da zugleich zwischen ihnen eine große Freundschaft bestand, da sie, über die Liebe hinaus, einander noch sehr gern hatten, und über die Liebe bisher nicht ein Wort gesprochen, so ging ihnen die Zeit hin wie ein Traum, und es leuchtete ihnen beständiger Sonnenschein.
Bald sollten ihn für Christine die Schatten der Gewissensbisse verdunkeln, aber jetzt war die Zeit der Ruhe. Gerade durch die Annäherung an Ketling, durch den gewohnten Verkehr mit ihm, durch diese Freundschaft, die zugleich mit der Liebe zwischen ihnen aufgekeimt war, hatte Christinens Unruhe ein Ende, waren die Eindrücke nicht so gewaltsame, war der Zwiespalt ihres Blutes und ihrer Einbildung verstummt. Sie waren einander nahe, sie fühlten sich nebeneinander wohl, und Christine gab sich mit ganzer Seele der freundlichen Gegenwart hin und wollte nicht daran denken, daß sie je enden könne, und daß es zur Zerstreuung der Täuschung nur des einen Wörtchens von Ketling bedürfe: Ich liebe dich.
Und dieses Wort wurde bald gesprochen. Einmal, als Frau Truchseß mit Bärbchen bei einer kranken Verwandten waren, beredete Ketling Christine und Herrn Sagloba, das königliche Schloß zu besuchen, welches Christine bisher nicht gesehen hatte, und von dessen Wunderdingen man im ganzen Lande erzählte. Sie gingen also zu dreien hin; Ketlings Freigebigkeit öffnete ihnen alle Türen, und Christine wurde von so tiefen Verbeugungen der Diener begrüßt, als wäre sie eine Königin und betrete ihre eigene Residenz. Ketling, der das Schloß genau kannte, führte sie durch die prächtigen Säle und Zimmer. Sie betrachteten das Theater, die königlichen Bäder, sie blieben vor den Bildern, welche die Schlachten und Siege Siegmunds und Wladislaus' über die Barbaren des Ostens darstellten, sie gingen hinaus auf die Terrassen, von denen der Blick in unermeßliche Fernen schweifte. Christine war außer sich vor Bewunderung; er aber erklärte ihr alles. Von Zeit zu Zeit schwieg er und schaute in ihre dunkelblauen Augen, als wollte er mit dem Blicke sagen: Was bedeuten alle diese Wunder gegen dich, du Wunder, was bedeuten alle diese Schätze gegen dich, du Schatz!
Das Mädchen aber verstand diese stumme Sprache. Ehe er sie in eines der königlichen Zimmer führte, blieb er vor einer in der Wand verborgenen Tür stehen und sagte:
»Hier kann man bis in die Kathedrale gelangen; ein langer Korridor, der in einen schmalen Gang ausläuft und bis zu dem großen Altar hinführt. Hier hören der König und die Königin gewöhnlich die Messe.«
»Ich kenne diesen Weg gut,« antwortete Sagloba, »denn da ich mit Johann Kasimir in vertrauter Freundschaft lebte, und Marie Luise mich außerordentlich gern hatte, haben sie mich beide oft zur Messe eingeladen, um sich an meiner Gesellschaft zu erfreuen und an meiner Frömmigkeit zu erbauen.«
»Wünschet Ihr einzutreten?« fragte Ketling, indem er dem Türhüter ein Zeichen gab zu öffnen.
»Gehen wir hinein!« antwortete Christine.
»Geht allein,« sagte Sagloba, »Ihr seid jung und habt kräftige Beine; ich hab' mich schon müde gelaufen. Geht, geht, ich bleibe hier bei dem Diener. Wenn ihr auch mehrere Paternoster betet – ich will euch nicht zürnen wegen der Verzögerung, denn ich kann während der Zeit ausruhen.«
Sie gingen also hinein. Ketling nahm ihren Arm und führte sie durch den langen Korridor. Er drückte ihre Hand nicht ans Herz; er ging ruhig und in andächtiger Sammlung. Die Seitenfensterchen beleuchteten von Zeit zu Zeit ihre Gestalt, dann wieder tauchte sie im Dunkel unter. Ihr schlug das Herz ein wenig, denn sie waren zum erstenmal allein geblieben, aber seine Ruhe und Milde beruhigten auch sie. Endlich kamen sie in den schmalen Gang zur rechten Seite der Kirche, unmittelbar hinter dem Gitter in der Nähe des Hochaltars.
Zuerst knieten sie nieder und begannen zu beten. Die Kirche war still und leer. Zwei Lichter brannten vor dem Altar, aber der ganze Hintergrund des Kirchenschiffes lag in feurigem Halbdunkel. Nur durch die Regenbogenscheiben fiel farbiger Glanz auf diese beiden wunderbaren Gesichter, die in Andacht versunken waren, und in ihrer Ruhe Ähnlichkeit mit den Gesichtern der Cherubim hatten.
Ketling erhob sich zuerst und begann zu flüstern, denn er wagte nicht, in der Kirche seine Stimme zu erheben.
»Seht Ihr, diese Samtgewänder, hier sind die Spuren, wo die beiden Häupter des königlichen Paares sich gestützt haben. Die Königin saß auf dieser Seite, dem Altar näher. Ruht Ihr auf ihrem Platze …«
»Ist es wahr, daß sie ihr ganzes Leben unglücklich gewesen,« flüsterte Christine, indem sie niedersaß. »Ich habe ihre Geschichte gehört, als ich noch ein Kind war; man erzählte sie in allen Adelsschlössern. Es kann wohl sein, daß sie unglücklich war, denn sie konnte nicht dem die Hand reichen, den ihr Herz liebte.« Christine stützte ihren Kopf auf dieselbe Stelle, an welcher die Vertiefung war, welche der Kopf Marie Luisens gebildet hatte, und schloß die Augen; ein schmerzliches Gefühl bedrückte ihre Brust, ein kalter Zug wehte plötzlich aus dem leeren Kirchenschiff her und machte den Frieden, der noch vor einer Weile ihr ganzes Wesen erfüllt hatte, zu Eis erstarren.
Ketling schaute sie schweigend an, es entstand eine wahrhaft kirchliche Stille. Dann beugte er sich langsam zu Christinens Füßen und begann mit tiefer, bewegter, aber ruhiger Stimme:
»Es ist keine Sünde, wenn ich an heiligem Orte vor dir niederkniee, denn wohin sollte reine Liebe segenheischend flüchten, wenn nicht in die Kirche? Ich liebe dich mehr als mein Leben, ich liebe dich mehr als alles Irdische, mit meiner ganzen Seele, mit meinem ganzen Herzen; nur hier im Angesicht dieses Altars bekenne ich dir meine Liebe!«
Christinens Antlitz wurde bleich wie Linnen; den Kopf auf den Samt der Lehne gestützt, blieb das unglückselige Mädchen unbeweglich. Er aber fuhr fort:
»Ich umfasse deine Kniee und flehe dich an um dein Urteil. Darf ich davongehen voll himmlischer Freude oder mit einem unerträglichen Schmerz, den ich nie und nimmer zu überleben vermöchte?«
Eine Weile harrte er der Antwort, als sie aber nicht kam, neigte er sein Haupt so tief, daß er fast Christinens Füße berührte, und eine sichtlich wachsende Rührung ergriff ihn ganz. Seine Stimme zitterte, als fehlte seiner Brust der Atem.
»In deine Hand empfehle ich mein Glück, mein Leben; deiner Zuneigung harre ich entgegen, denn mir ist furchtbar schwer …«
»Laß uns um Gottes Erbarmen beten!« rief plötzlich Christine, indem sie in die Kniee sank.
Ketling hatte sie nicht begriffen, aber er wagte nicht, Widerstand zu leisten und kniete voll Erwartung und Unruhe neben ihr nieder. Und sie begannen wieder zu beten.
In dem leeren Kirchenraum hörte man manchmal ihre Stimmen sich erheben, und das Echo gab ihnen seltsamen, traurigen Widerhall.
»Gott, sei gnädig!« sagte Christine.
»Gott, sei gnädig!« wiederholte Ketling.
»Erbarme dich unser!« – »Erbarme dich unser!«
Und sie fuhren leise in ihrem Gebete fort; aber Ketling bemerkte, daß ihre ganze Gestalt vom Weinen erschüttert wurde. Sie konnte sich lange Zeit nicht beruhigen, und dann, als sie ruhig geworden, kniete sie noch lange unbeweglich. Endlich erhob sie sich und sagte:
»Gehen wir.«
Und sie traten wieder hinaus auf jenen langen Korridor. Ketling hoffte auf dem Wege eine Antwort zu erhalten und blickte ihr in die Augen, aber vergeblich. Sie ging eilig, als sehnte sie sich danach, so schnell wie möglich in das Zimmer zu gelangen, in welchem Sagloba auf sie wartete. Als sie nicht mehr weit von der Tür entfernt waren, ergriff der Ritter den Zipfel ihres Kleides.
»Fräulein Christine!« sagte er, »bei allem, was heilig ist!«
Da wandte sich Christine um, ergriff so schnell seine Hand, daß er nicht Zeit hatte, ihr Widerstand zu leisten, und drückte sie in einem Augenblick an den Mund.
»Ich liebe dich aus ganzer Seele,