»Wo ist er?« fragte das Leid – »sieh, noch ist er nicht heimgekehrt; er wandert durch die Nächte und ringt die Hände. Du wolltest ihn dem Himmel näher bringen, dein Herzblut für ihn hingeben, und du hast ihm den giftigen Trank bereitet, hast ihm das Messer ins Herz gestoßen.«
»Wärest du nicht voll Leichtsinn, würdest du nicht jeden an dich locken wollen, dem du begegnest« – so sprachen die Gewissensbisse – »wie anders könnte alles sein; nun bleibt dir nichts als die Verzweiflung, deine eigene Schuld, deine eigene große Schuld. Nun gibt es keine Hilfe mehr, keine Rettung, dir bleiben nur die Schmach, der Schmerz, die Tränen – «
»Wie er vor dir kniete in der Kirche« – sagte wieder das Leid – »ein Wunder, daß dir das Herz nicht brach, als er dir in die Augen blickte und um Erbarmen bat. War es recht, mit einem Fremden Mitleid zu haben, um wieviel mehr mit ihm, dem Geliebten, dem Teuersten! Gott segne ihn, Gott gebe ihm Trost.«
»Wärest du nicht leichtsinnig gewesen, so könnte dieser Teuerste in Freuden einhergehen« – wiederholten die Gewissensbisse – »und du könntest in seine Arme sinken als die Erwählte, als die Gattin …«
»Und ewig mit ihm sein« – fügte das Leid hinzu.
Und die Gewissensbisse: »Deine Schuld!« —
Und das Mitleid: »Weine, Christine!«
Und wieder sagten die Gewissensbisse: »Damit tilgst du die Schuld nicht.«
Und wieder sprach das Leid: »Tue, wie du willst, aber tröste ihn.« —
»Wolodyjowski wird ihn töten,« antworteten sogleich die Gewissensbisse.
Kalter Schweiß bedeckte Christine, und sie setzte sich in ihrem Bette auf; das helle Licht des Mondes fiel in das Zimmer, das bei dem blassen Scheine seltsam gespensterhaft aussah.
»Was ist das?« dachte Christine. »Dort schläft Bärbchen; ich sehe sie, denn der Mond scheint ihr ins Gesicht, und ich weiß nicht, wann sie gekommen ist, wann sie sich entkleidet und niedergelegt hat; ich habe doch keinen Augenblick geschlafen. O, ich sehe, mein armer Kopf ist zu nichts mehr gut.«
Und wieder legte sie sich mit diesen Gedanken hin, aber bald ließen sich auch Leid und Gewissensbisse auf den Rahmen ihres Bettes nieder, zwei Göttinnen gleichend, die nach Belieben im Glanze des Mondes auftauchten oder aus dem silbernen Strom emporkamen.
»Ich werde heute gar nicht schlafen,« sagte Christine zu sich.
Und sie begann an Ketling zu denken und immer mehr zu leiden.
Plötzlich ertönte durch die Stille der Nacht die klagende Stimme Bärbchens:
»Christine! – Schläfst du nicht?«
»Mir träumte, daß irgend ein Türkenhund Herrn Michael mit einem Pfeil getroffen habe; – o Jesus Christus, Träume sind Schäume! Aber es schüttelt mich wie im Fieber – laß uns ein Gebet sprechen, damit Gott das Unheil wende!«
Christine flog wie ein Blitz der Gedanke durch den Kopf: wenn ihn doch einer getötet hätte! Aber sofort erschrak sie vor ihrer eigenen Schlechtigkeit, und obgleich sie sich zu übermenschlicher Kraft erheben mußte, um in diesem Augenblick um die glückliche Heimkehr Wolodyjowskis zu beten, antwortete sie doch: »Gut, Bärbchen.«
Dann stiegen sie beide aus ihren Betten, knieten mit nackten Beinen auf der mondbeleuchteten Diele und begannen ihre Litanei. Ihre Stimmen klangen wie Frage und Antwort zusammen, bald hoben, bald senkten sie sich, man hätte meinen können, das Zimmer habe sich in eine Klosterzelle verwandelt, in welcher zwei weiße Nonnen ihre nächtlichen Gebete verrichteten.
Am folgenden Tage war Christine schon ruhiger, denn sie hatte sich aus den verworrenen Pfaden und Irrwegen zwar einen sehr schweren, aber einen geraden Weg gewählt. Indem sie ihn beschritt, wußte sie wenigstens, wohin sie ging. Vor allem aber beschloß sie, mit Ketling zusammenzutreffen und ihn zum letzten Male zu sprechen, um ihn vor jedem Unheil zu schützen. Es wurde ihr schwer, denn Ketling hatte sich am folgenden Tage nicht sehen lassen und war auch zur Nacht nicht heimgekommen.
Christine pflegte nun vor Tag aufzustehen und in die nahe Dominikanerkirche zu gehen, da sie hoffte, daß sie ihm an einem Morgen begegnen werde und ohne Zögern mit ihm würde sprechen können.
Sie traf ihn auch wirklich einige Tage später am Kirchentor. Als er sie bemerkte, zog er den Hut, neigte schweigend den Kopf und stand regungslos da. Sein Gesicht war von Schlaflosigkeit und Leiden ermattet, die Augen hohl, und an den Schläfen waren gelbliche Flecken sichtbar. Seine zarte Gesichtsfarbe war wie Wachs geworden und sah wie eine prächtige Blume aus, die dahinwelkt. Christinens Herz riß in Stücke bei diesem Anblick, und obgleich ihr jeder entscheidende Schritt schwer wurde, da sie von Natur zaghaft war, streckte sie ihm doch zuerst die Hand entgegen und sagte:
»Möge Euch Gott trösten und Euch Vergessen schenken!«
Ketling nahm ihre Hand, zog sie an seine glühende Stirn, dann an die Lippen, an die er sie lange und mit ganzer Kraft drückte; endlich sprach er mit einer Stimme voll von tödlicher Trauer und Ergebung:
»Für mich gibt es keinen Trost, kein Vergessen!«
Christine brauchte in diesem Augenblick die ganze Herrschaft über sich selbst, um ihm nicht vor Leid die Arme um den Hals zu schlingen und auszurufen: »Ich liebe dich über alles, nimm mich hin!« – Sie fühlte, daß sie dies tun würde, wenn der Schmerz sie fortrisse. Darum stand sie lange Zeit schweigend vor ihm und rang mit ihren Tränen. Endlich überwand sie sich und begann ruhig, aber sehr schnell, weil ihr der Atem fehlte:
»Vielleicht bringt es Euch Trost, wenn ich Euch sage, daß ich keinem Manne angehören werde … Ich gehe ins Kloster … Denkt nicht schlecht von mir, denn ich bin schon so unglücklich; versprecht mir, gebt mir Euer Wort, daß Ihr niemand Eure Neigung zu mir anvertrauen werdet … daß Ihr niemand bekennen werdet … daß Ihr das, was vorgefallen, keinem Freunde, keinem Verwandten entdecken werdet. Dieses ist meine letzte Bitte. Einst kommt die Zeit, wo Ihr erfahren werdet, warum ich so handle … aber dann seid einsichtsvoll. Heute sage ich nichts mehr, denn ich kann nicht mehr vor Schmerz. – Versprecht mir das, das wird mein Trost sein, sonst sterbe ich.«
»Ich verspreche es und gebe mein Wort,« antwortete Ketling.
»Gott wird es Euch lohnen, und ich danke Euch von ganzem Herzen! Aber in Gegenwart der Menschen zeigt ein ruhiges Gesicht, damit niemand etwas ahne. Ich muß gehen; Ihr seid so gut mit mir, daß ich es mit Worten nicht sagen kann. Von nun ab werden wir uns nicht mehr ohne Zeugen sehen, immer nur vor den Menschen. Saget mir noch, daß Ihr mir nicht gram seid, denn Leiden ist ein anderes und Gramsein ein anderes … Gott allein tretet Ihr mich ab, keinem anderen … seid dessen eingedenk.«
Ketling wollte sprechen; aber weil er über die Maßen litt, drangen von seinen Lippen nur undeutliche Töne, Seufzern ähnlich. Dann berührte er mit den Fingern Christinens Schläfen und hielt sie so eine Zeitlang, zum Zeichen, daß er ihr verzeihe, und daß er sie segne. Dann trennten sie sich; sie ging in die Kirche, er wieder auf die Straße, um niemand von den Bekannten in der Herberge zu treffen.
Christine kehrte erst gegen Mittag wieder und fand bei ihrer Heimkehr einen ausgezeichneten Gast; es war der Priester Olschowski, der Unterkanzler. Er war unerwartet zu Herrn Sagloba zu Besuch gekommen, weil er den Wunsch hegte, wie er selbst sagte, einen so großen Rittersmann kennen zu lernen, »dessen kriegerische Taten ein Muster, und dessen Verstand ein Vorbild für die gesamte Ritterschaft dieser hohen Republik sei.«
Sagloba war zwar höchlich erstaunt, aber nicht minder auch erfreut darüber, daß ihn eine so große Ehre in Gegenwart der Frauen treffe. Er blies sich also gewaltig auf, wurde rot, kam in Schweiß, und gleichzeitig bemühte er sich, der Frau Truchseß zu zeigen, daß er es gewohnt sei, solche Besuche von den größten Würdenträgern des Landes zu empfangen, und daß er sich nichts aus ihnen mache. Christine wurde dem Prälaten vorgestellt, küßte bescheiden seine Hände und setzte sich neben Bärbchen, froh darüber, daß niemand auf ihrem Gesicht die Spuren der vorangegangenen Erregungen lesen könne.
Inzwischen überhäufte der Unterkanzler Herrn Sagloba so reichlich mit Lobeserhebungen, daß es schien,