»Bei mir kehrt der Schlaf nicht ein; das Kugelkunststück und der Rappe lassen mir keine Ruhe. Gut Nacht, Sihdi!«
»Gute Nacht!«
Ich glaubte es dem lieben Kerl sehr gern, daß er sich in einer bedeutenden Aufregung befand. Es gab drei Geschöpfe, welchen sein Herz gehörte. Daß ich da voran stand, das wußte ich. Dann kam Hanneh, die »Zierde der Frauen und Mädchen«, und hernach Rih, der Rappe. Daß er diesen reiten sollte, das war ein über alle Maßen außerordentliches Ereignis. Ich war überzeugt, daß er nicht schlafen würde.
Und so geschah es auch. Ich selbst war ziemlich aufgeregt und fand keine wirkliche Ruhe. Wenn die gute Nebatja nicht auf den Berg gegangen wäre, um ihre Marienkreuzdistel zu holen, so hätte sie das Gespräch nicht belauschen und mich auch nicht warnen können. In diesem Fall hätte mir morgen der sichere Tod bevorgestanden. Wie nichtig ist doch der Wille des Menschen gegen Gottes Ratschluß! Wenn ich der kühnste, stärkste, klügste und umsichtigste Mensch wäre, ohne Nebatja war ich verloren.
Solche Gedanken pflegen die Türe zu öffnen, durch welche man in die Vergangenheit blickt. Wohl dem Menschen, welcher dann erkennt, daß er zwar selbst bestimmend auf sein Schicksal einzuwirken vermag, daß aber doch eine mächtigere Hand ihn immer hält und leitet, selbst dann, wenn er diese Hand von sich zu stoßen vermeint! So lag ich, abwechselnd sinnend und halb träumend, bis ich endlich doch in Schlummer fiel.
Zweites Kapitel: Die beiden Aladschy
Als ich aus dem Schlafe erwachte und den Laden aufstieß, drang das helle Tageslicht zu mir herein. Meine Uhr sagte mir, daß ich dritthalb Stunden geschlafen hatte. Halef war schon aufgestanden. Ich fand ihn unten in dem Stalle; er putzte an dem Rappen herum, und zwar mit einem solchen Eifer, daß er meinen Eintritt gar nicht bemerkte. Als er mich dann doch erblickte, fragte er:
»Du auch schon auf? Im Hause schläft noch alles. Aber es ist gut, daß du schon munter bist, denn du hast sehr notwendige Besorgungen vor.«
»So? Was denn?« erkundigte ich mich, obgleich ich sehr wohl wußte, was er meinte.
»Du mußt in die Apotheke gehen.«
»Das hat noch Zeit.«
»Nein, Sihdi. Es dauert sehr lange, bis man solche Kugeln fertig bringt.«
»Woher weiß denn du das?«
»Ich bin nicht so dumm, daß ich es mir nicht denken könnte, Sihdi.«
»Nun, recht magst du haben, zumal ich mir auch noch die Blätter zu kochen habe; aber ich weiß ja nicht, wo die Apotheke ist, und in der ganzen Stadt wird noch niemand auf den Beinen sein, um mir das Haus zu zeigen.«
»So ein Spuren- und Fährtensucher wird doch wohl auch eine Apotheke finden können?«
»Ich will es versuchen.«
Hierauf öffnete ich das Tor und trat hinaus auf den freien Platz. Ich sagte mir, daß die Apotheke nicht in irgend einem Gassenwinkel, sondern möglichst leicht zu erreichen und in der Mitte des Ortes liegen möge, und da befand ich mich ja.
Indem ich von Haus zu Haus blickte, bemerkte ich ein sehr altes, baufälliges Ding, das wohl ein Haus sein sollte. Nur noch an zwei wahrscheinlich auch bereits lockeren Nägeln hing ein langes Brett windschief herab, dessen Inschrift glücklicherweise noch deutlich zu lesen war.
»Hadsch Omrak Doktor hakemi we bazar bahari.«
So stand mit weißer Schrift auf grünem Grund zu lesen. Auf deutsch: »Der Mekkapilger Omrak, Doktor der Medizin und Verkaufsladen von Arzneiwaren.« Dieser Hadschi war also ein Arzt, welcher entweder den Doktortitel wirklich besaß oder sich ihn anmaßte.
Die Türe war verschlossen, aber ein kräftiger Stoß mit der Hand hätte mir sofort Eingang verschafft. Eine Klingel war nicht zu sehen, doch hingen an den beiden Enden eines Strickes zwei Holzdeckel grad so hoch, daß sie von einem erwachsenen Menschen erreicht werden konnten. In der Ahnung, daß dies die Hausglocke vorstellen solle, ergriff ich die Deckel und schlug sie zusammen. Das gab allerdings ein Geräusch, welches ganz geeignet war, einen Schlafenden zu wecken.
Ich mußte längere Zeit das Cymbal schlagen, bevor ich Erhörung fand. Ueber mir wurde ein Laden geöffnet, stückweise, denn die Bretter hingen nicht mehr zusammen; dann kam folgendes zum Vorschein: eine elfenbeingelbe Glatze, eine aus lauter Querrunzeln bestehende Stirn, zwei kleine, schläfrig blinzelnde Augen, eine Nase, welche der Schnauze einer großen, braunen tönernen Kaffeekanne glich, wie man sie bei uns auf den Dörfern sieht, ein breiter, lippenloser Mund, ein gebogenes Kinn, welches gar nicht breiter als die Nase war, und endlich ertönte es zwischen den Lippen hervor:
»Kim dir – wer ist da?«
»Bir chasta – — ein Patient,« antwortete ich.
»Ne asl chastalyk – welche Krankheit?«
»Mibim kyran – ich habe den Magen gebrochen,« erklärte ich frisch von der Leber weg.
»Schimdi, tez – gleich, sogleich!« schrie der Herr »Doktor« mit einer Stimme, der ich entnahm, daß ihm ein solcher Hauptfall noch gar nicht vorgekommen sei.
Der Kopf fuhr in allerhöchster Eile zurück; mir aber, der ich so verwegen war, noch in die Höhe zu blicken, fielen die Bestandteile des Ladens ins Gesicht. Ich war so geistesgegenwärtig, erst dann zur Seite zu springen, als die Bretter bereits auf der Erde lagen.
Nach kaum einer Minute hörte ich hinter der Türe einen Lärm, als ob ein Erdbeben im Anzug sei. Einige Katzen kreischten, ein Hund heulte, Gefäße wurden umgerissen, eine unaussprechlich wundersame Frauenstimme schrie dazwischen; dann flog etwas, was wohl der Arzt selbst war, gegen die Türe, denn sie ging auf, und der gelehrte Herr lud mich mit einer tiefen, tiefen Verbeugung ein, gütigst näher zu treten.
Aber was für eine Gestalt sah ich da vor mir! Dieser »Doktor und Arzneiladen« hätte, in ein heimatliches Rübenfeld gestellt, allen Hänflingen, Stieglitzen, Zeisigen und Spatzen einen so heillosen Schreck eingejagt, daß sie sicher sofort nach Marokko geflogen wären, um niemals in ihrem Leben wiederzukommen.
Sein Gesicht sah jetzt, in der Nähe betrachtet, noch viel vorweltlicher aus als vorher. Es war so voll von Falten und Runzeln, daß es auch nicht eine einzige, noch so kleine glatte Stelle darin gab. Sein Morgenkleid war ein hemdähnliches Ding, welches zwar von der Schulter bis auf die Knöchel reichte, aber die Blöße doch nur halb bedeckte, da es fast nur aus Löchern und ellenlangen Rissen bestand. An dem einen Fuße hatte er einen abgeschlurften rotledernen Pantoffel und an dem anderen einen Reisestiefel aus schwarzem Filz. Doch war auch dieser Filz so luftbedürftig geworden, daß er den Zehen einen ungehinderten Ausblick in alle Gegenden des türkischen Reiches gestattete. Seine Glatze hatte er mit einer alten Nachthaube für Frauen bedeckt, deren hinterer Teil nach vorn, der vordere Teil aber nach hinten zu liegen gekommen war, jedenfalls eine Folge der Eile, mit welcher er meinem gebrochenen Magen hatte Rettung bringen wollen.
»Herr, komm näher!« sagte er. »Tritt herein in die armselige Gesundheitsfabrik deines geringen Dieners!«
Er beugte den Kopf fast bis zur Erde und bewegte sich dabei storchartig rückwärts, bis hinter ihm ein schriller Weheruf erscholl:
»O jazik – o wehe! Kojun, basar sen nassyrlarmüz üzeri – Schaf, du trittst mir ja auf meine Hühneraugen!«
Er fuhr erschrocken empor und zur Seite. Da bekam ich das zarte Wesen zu sehen, welches diese sanften Worte gelispelt hatte.
Dasselbe schien aus einem Gesicht, einem uralten Teppich und zwei nackten, schrecklich schmutzigen Füßen zu bestehen. Dennoch waren diese Füße unendlich anziehender als das Gesicht. Der Besitzer der »Gesundheitsfabrik« war ein wahrer Apollo gegen sein Weibchen. Am liebsten widme ich der Schönheit ihres Antlitzes ein ohnmächtiges Schweigen.
Sie trat vor und verbeugte sich ebenso tief, wie vorhin ihr Gemahl.
»Chosch