Zeit ist ein gerichteter Prozess und ist der unumkehrbare Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist eine abstrakte Beschreibung des Verlaufsaspekts von rhythmischen und periodischen Prozessen in Natur und Gesellschaft46. Die Relativitätstheorie besagt, dass es nicht eine in allen physikalischen Systemen gleiche Zeit gibt, sondern dass in relativ zueinander bewegten Systemen jeweils eine andere Systemzeit gilt. Auch die Gravitation spielt eine Rolle: in der Nachbarschaft großer Körper läuft ein Uhr langsamer als beispielsweise im masseleeren Weltraum, und auf dem 4807 m hohen Mont Blanc läuft eine Uhr in 50 Jahren um 0,7 Sekunden schneller als im tiefer gelegenen Chamonix (1037 m ü. M.). Das sind etwa 10-16 s je Meter Höhendifferenz. Am Rand eines Schwarzen Loches würde die Zeit sogar stillstehen.
Bereits frühe Kulturen hatten aus dem Tages- und Jahresablauf oder aus den Mondphasen abgeleitete Zeitmaße. Im alten Ägypten war ein solches Maß der zwölfte Teil des lichten Tages, damit also jahreszeitlich bedingt auch unterschiedlich lang, und war bis ins frühe Mittelalter in Europa die Norm47. Hellenistische Astronomen führten den 24. Teil eines Tages als gleichbleibend lange Stunde ein. Von Ptolemäus stammt die Unterteilung in ein Sechzigersystem (Minute), und schließlich wurde die Sekunde als zweiter verminderter Teil der Minute (pars minuta secunda) eingeführt, denn bei der Nutzung von periodischen Pendelschwingungen zur Zeitmessung wäre die Minute eine viel zu grobe Einheit. Die Zeiteinheit Sekunde war damit über Minute und Tag aus astronomischen Abläufen abgeleitet. Seit 1967 ist sie als SI-Einheit definiert als das 9192631770-fache der Periodendauer einer Infrarotstrahlung des Cäsiumisotops 133Cs und ist mit der Genauigkeit von 10-12 erstmalig auf eine Naturkonstante zurückgeführt. Die Rotationsgeschwindigkeit unseres Wohnglobus Erde ist nämlich nicht ganz konstant, eine Umdrehung kann täglich bis zu 0,01 s schwanken und dauert allmählich länger48. So wurde 1971 festgelegt, dass bei einer Differenz von größer als 0,7 s zwischen Erdstellung und Atomzeit eine Schaltsekunde eingefügt wird, wie erst kürzlich geschehen.
Frühe Zeitmesser waren eher von orientierendem Charakter (Sonnenuhr) oder nur für kürzere Zeitabschnitte brauchbar, so als Dauer des Auslaufens von Wassergefäßen sowie Sanduhren oder der Brenndauer von Kerzen. Abgeleitet von Wasseruhren gab es bereits im 16. Jh. Räderuhren. Derartige Uhren mit Sekunden- und Minutenanzeige benutzte zum Beispiel Tycho Brahe bei der Beobachtung von Sternbildern. Der von Galilei formulierte Zusammenhang zwischen der Länge eines Pendels und dessen Schwingungsdauer veranlasste Christiaan Huygens zum Bau einer Pendeluhr, die auf 10 s/d genau ging (1,1·10-4). Später gelang es, die Genauigkeit auf 0,1 s/d (1,1·10-6) zu erhöhen. Für eine stationäre Uhr war das ein respektabler Wert, erfordert aber völlig ruhige Luft, eine erschütterungsfreie Aufstellung und ist damit nicht nutzbar für den Einsatz auf einem Schiff oder im Gelände.
Für einen Landbewohner im 17. oder 18. Jahrhundert wäre es allerdings auch völlig uninteressant gewesen, zu wissen, ob das Glockenzeichen vom Kirchturm auf die Minute oder Sekunde genau ertönt. Der Ersatz des klassischen Pendels durch die federgefesselte Unruh als Taktgeber entsprang eher dem Wunsch nach einer ortsveränderlichen (tragbaren) Uhr. Deren Ganggenauigkeiten waren vorerst wesentlich schlechter, und die ersten Taschenuhren mit Federaufzug hatten sogar nur einen Stundenzeiger, so das bekannte „Nürnberger Ei“ des Peter Henlein..
Das große Interesse an genau gehenden ortsveränderlich einsetzbaren Uhren hatte ursprünglich eindeutig kommerzielle und damit auch sehr direkt machtpolitische Beweggründe. Die Schiffe der seefahrenden Nationen konnten sich zwar mit astronomischen Mitteln oder am Erdmagnetfeld einigermaßen orientieren. Für eine einigermaßen genaue Navigation reicht das überhaupt nicht aus, weil im geografischen Koordinatensystem die Bestimmung der geografischen Länge auf eine genaue Zeitbestimmung angewiesen ist, wie das in Kapitel 4 noch ausführlicher dargestellt werden soll. Die auf Navigationsfehler zurückführbaren Verluste an Schiffen, Personal und Ladung müssen enorme Auswirkungen auf eine Wirtschaftsmacht gehabt haben, denn nur aus einer solchen Sicht heraus wird verständlich, dass das britische Parlament im Jahre 1714 einen Preis von 20.000 Pfund Sterling für den Bau eines Chronometers ausgelobt hat49, eine für die damalige Zeit enorme Summe50. Erst nach langem Zögern wurde 1764 ein Teil des Preises an John Harrison für sein Chronometer H 4 ausgezahlt; vorausgegangen waren konträre Auseinandersetzungen mit Verfechtern rein astronomischer Verfahren51.
Die Bedeutung der genauen Zeitmessung hat Humboldt vielfach betont. Die Genauigkeit damaliger Geräte ist zwar nicht immer belegt; auf sie lässt sich aber aus verschiedenen Angaben schließen. Sein Chronometer52 H 4 von Harrison zeigte auf einer Fahrt nach Jamaika und zurück in 5 Monaten eine Abweichung von nur 5,1 Sekunden, das entspricht einer Langzeit-Unsicherheit von 2,5·10-6, und das auf der Amerikareise auch benutzte Chronometer Nr.27 von Francois Berthoud wurde vorher in der Sternwarte der Marine in Marseille 18 Tage lang überprüft53. Der Gang war in dieser Zeit bis auf ein Drittel Sekunden gleichförmig, was eine Langzeit-Unsicherheit von 2·10-7 ergibt. An anderer Stelle [7, S. 153R] berichtet Humboldt:
„Er (der neue Berthoudsche Chronometer) eilt täglich 3 Sek. (nahe an 3˝) vor.“
Das sind 3,5·10-5. Einem Langzeitmittel können also kurzzeitigere tägliche Schwankungen überlagert sein – insgesamt sind diese Werte aber imponierend für die damalige Zeit54.
Einen von H. Kessel, dem Uhrmacher der Dänischen Marine, 1828 in Altona angefertigten Taschenchronometer mit nur 6 cm Durchmesser erhielt 1830 Humboldt als Geschenk des Dänischen Königs Frederik VI., und Schumacher benutzte ihn 1835 zur Bestimmung von Längendifferenzen zwischen Altona und Berlin [2, S. 35/36]. Dieser Chronometer hatte eine Abweichung von nur „um 0,069 Zeitsekunden vom Mittel aller Chronometer“55. Andererseits bemerkt Humboldt zu einer von Capt. Phipps 1773 gerühmten Taschenuhr von John Arnold, dass sie kein Chronometer gewesen sei, weil sie sich in 128 Tagen um 2´40˝irrte56. Nachgerechnet bedeuten 160/(86400·128) nur ca. 1,5·10-5. Die Phipps’sche Uhr läge also in der gleichen Größenordnung wie das gerühmte Berthoud‘sche Gerät - beide kämen damit in den Bereich heutiger Gebrauchs-Quarzuhren.
Die von Humboldt und seinen Begleitern mitgeführten Chronometer dienten noch für eine weitere seiner Hauptaufgaben, nämlich der Erkundung des Erdmagnetfeldes. Hierzu wird eine Uhr benötigt, die über einen kurzen Zeitraum möglichst genau gehen soll, für diesen Zeitraum aber auch eine entsprechende feine Auflösung ermöglichen muss. In der Geräteliste in [2] ist ein „Punktierchronoskop“ (Stoppuhr) aufgeführt; in [9, S. 19V] nannte es Humboldt timekeeper. Damit wurden über einen Zeitraum von meistens zehn Minuten die Schwingungen einer ausgelenkten Magnetnadel gezählt und ausgewertet (siehe Abschnitt 5.2). In Vorbereitung seiner Russlandreise schrieb Humboldt an Schumacher am 13.3.1829 (zitiert in [5, S. 192]), dass er für die magnetischen Intensitätsmessungen eine nur „einige Stunden gut gehende Uhr“ benötigt, führte aber schließlich den Chronometer Nr. 464 von Thomas Earnshaw mit. Dessen Ganggenauigkeit veranlasste ihn offensichtlich, sein Programm zu ändern, wie andere Autoren schlussfolgern. Humboldt hatte wohl ursprünglich vor, nur Breitenmessungen auszuführen. An Schumacher schrieb er weiter:
„Der Chron soll eigentlich nur zu den Schwingungen dienen; kann man ihm mehr trauen, so werde ich zu Längenbestimmungen gewiß oft Stundenwinkel nehmen.“ (zitiert in [5, S. 193].
Er hat ihn dann tatsächlich zur Zeitübertragung von Ort zu Ort und damit zur Längenbestimmung genutzt, wobei die meisten Messungen von seinen Begleitern