Die von Humboldt in seinen Briefen und Ausrüstungsverzeichnissen erwähnten Geräte und Instrumente24, die er auf seinen Reisen mitführte, gestatteten ihm astronomische, geomagnetische, barometrische und Temperaturmessungen25. Sie wurden benötigt, um sein großes Arbeitsprogramm abarbeiten zu können, das er 1807 so umschrieb ([16, S. 38], zitiert in [2, S. 17]):
„Ich habe es gewagt, ein physikalisches Gemälde der Äquinoctialgegenden zu entwerfen. Ich habe versucht alle Erscheinungen zusammenzustellen, welche den Boden und den Luftkreis, von den Küsten des stillen Meeres an bis zum Gipfel der Kordilleren, dem Beobachter darstellt. Dasselbe umfaßt: Vegetation; Thiere; Geognostische [geologische] Verhältnisse; Ackerbau; Luftwärme; Grenzen des ewigen Schnees; Elektrische Tension der Atmosphäre Abnahme der Gravitation; Dichtigkeit der Luft; Intensität der Himmelbläue; Schwächung des Lichts beym Durchgang durch die Luftschichten; Strahlungsbrechung am Horizonte und Siedehitze des Wassers in verschiedenen Höhen über der Meeresfläche.“
Mehrere Publikationen der letzten Jahre beschreiben die von Humboldt benutzten Instrumente und sein methodisches Vorgehen, vor allem die detailreichen Arbeiten von Brand [2], Honigmann [3] und Schöppner [5]. Darauf wird in der Folge mehrfach Bezug zu nehmen sein. Bei Seeberger [4] werden viele Instrumente aus Humboldts Zeit oder von ihm selbst benutzte Geräte in ausgezeichneter Bildqualität wiedergegeben.
Die von Brand in [2] akribisch recherchierte Auflistung der von Humboldt benutzten Messgeräte umfasst insgesamt 84 (!) Positionen, u. a.
7 Geräte zur Zeitmessung
14 Geräte zur Messung von Geophysik und Magnetismus
24 optische Geräte zur Höhen- und Lagebestimmung
5 Thermometer
9 Barometer und Geräte zur Höhenbestimmung
12 Geräte für Klimakunde, Meteorologie und elektrophysikalische Untersuchungen
4 sonstige Geräte.
Brand hat dazu die einschlägigen Schriften von und über Alexander von Humboldt incl. des Nachlasses ausgewertet, so dass seine Liste von weitgehender Vollständigkeit sein dürfte. Natürlich hat Humboldt nicht auf jeder Reise das gesamte Spektrum mitgeführt – bei Durchsicht aller Verzeichnisse dominieren aber Instrumente und Gerätschaften zur Orts-, Höhen- und Lagebestimmung, zur Ermittlung klimatischer Daten und Zustände sowie zur Luft- und auch Wasseranalyse, wie das obige Zitat deutlich formuliert. Die folgenden Kapitel werden sich mit diesen Geräten beschäftigen.
Einen erheblichen Teil seiner Reisevorbereitungen widmete Alexander von Humboldt der methodischen Vorbereitung und dem Studium von verfügbaren Unterlagen. Zusätzliche Reisen in europäische Länder verfolgten den gleichen Zweck. In Dresden und Umgebung übte er sich beispielsweise in barometrischen Höhenmessungen. Sein Bezugspegel war dabei die Elbe, genauer der seinerzeit gültige (mittlere) Elbspiegel. Die Zahlenangaben im Tagebuch sind Relativwerte [9, S. 56V]. So ermittelt er die Höhe der Festung Königstein zu 140,39 Toisen über der Elbe, die dort gegenüber Dresden um 5,27 Toisen höher anzusetzen ist. Ebenso verglich Humboldt in [9, S. 61R] seine barometrische Höhenmessung des Schlossberges von Töplitz (jetzt: Teplice, CR; 88,6 Toisen = 172,68 m) mit den Angaben von Schluckenau aus dem Jahr 1779 von etwa 90 Toisen.
Ein weiteres Beispiel für die Gründlichkeit seiner Vorgehensweise sind Notizen zur Österreich-Reise 1796 in [9, S. 63R]. Für Salzburg hat er in verfügbaren Kartenwerken folgende Koordinaten gefunden und durch eigene Messungen überprüft (Tabelle 1 auf Seite 24).
Die Begründung für seine eigenen Messungen findet sich in einem Brief vom 28.10.1797 [22]:
„Da in der ganzen Stadt keine Mittagslinie gezogen ist und selbst die Polhöhe unbekannt ist, so habe ich die heiteren Tage zum Sextanten benutzt (…)“.
Während die Breitenangaben in Tabelle 1 fast identisch sind, weisen die Längenangaben zum Teil erhebliche Unterschiede auf. Ursache ist die seinerzeit ungenügend genaue Zeitbestimmung (siehe Kapitel 2) – ein Grund mehr, die jeweils besten verfügbaren Instrumente zu benutzen und auf der Basis des eigenen Kenntnisstandes die Ergebnisse kritisch zu hinterfragen.
Tabelle 1: Koordinaten von Salzburg26
Alle diese Studien und Lernprozesse waren Voraussetzung für die enormen späteren Leistungen bei der Erkundung und Erforschung vorher wenig erschlossener Territorien, was zusammenfassend als Physikalische Geografie Humboldts bezeichnet wird [23]. Humboldts wissenschaftliche Leistungen waren, so Honigmann in [3], vorallem wissenschaftliche Leistungen eines Entdeckers mit dem Messinstrument. Es ging weniger darum, neue Berge oder Länder zu entdecken, als vielmehr um zuverlässigere Werte von Dingen, die dem Namen nach zwar bekannt, aber nicht oder nur ungenügend datiert waren.
1.3. Maßsysteme
Das Ergebnis einer Messung ist die Angabe einer physikalischen Größe in Form eines Produkts aus einer Zahl, multipliziert mit einer Einheit. Dieses Produkt resultiert aus dem Vergleichsvorgang, bei dem eine qualitative Eigenschaft (Länge, Masse, Temperatur, …) mit einer Maßverkörperung quantitativ verglichen wird. Eine solche Maßverkörperung (einfaches Beispiel: Lineal zur Längenmessung) ist in Einheiten skaliert, und die Geschichte des Messens ist im Grunde eine Geschichte der Maßverkörperungen, der benutzten Einheiten, deren Definitionen und ihrer Skalierung.
Heute ist selbstverständlich, dass der Messwert ein Produkt aus Zahlenwert und Einheit ist. Das war nicht immer so. Bei Ausgrabungen im heutigen Irak fand man in den siebziger Jahren einige tausend Tontäfelchen, die, überraschend für die Archäologen, keine Gesetze oder Lobpreisungen enthielten, sondern die „Buchhaltung“ einer Dynastie von vor 5000 Jahren darstellten. Die Analyse ergab, dass damals für Getreide, Tiere, Menschengruppen usw. unterschiedliche Zählsysteme gebräuchlich waren. Die heute völlig selbstverständliche Trennung der Zahl von der Einheit ist eine exorbitante Abstraktion – aus heutiger Sicht eine beeindruckende geistige Leistung27. In einem Vortrag vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, veröffentlicht in Crelles Journal [18], hat sich Alexander von Humboldt auch mit den bei verschiedenen Völkern üblichen Zahlzeichen und Systemen und dem Ursprung des Stellenwertes in den indischen Zahlen beschäftigt - ein deutlicher Hinweis darauf, dass Humboldt sehr an den Quellen des seinerzeitigen Wissensstandes interessiert war, und im Umkehrschluss damit wohl auch dessen Grenzen kannte.
Der Bezug auf eine, dem zu bewertenden Gegenstand angepasste Vergleichsgröße spielte schon in den frühen Kulturen eine bedeutende Rolle für den Austausch von Gütern oder Sachwerten, weil nur die Relation zu einer Vergleichsgröße einen äquivalenten Austausch von Gütern, Tieren und leider auch Menschen (Sklavenhandel!) möglich machte. Frühgeschichtliche Funde, zum Teil fünftausend Jahre alt, aus Mesopotamien, am Nil und aus dem Indus-Tal beweisen die Benutzung von Wägesteinen für den Massevergleich. Für die Länge wurden aus Körpermaßen abgeleitete Einheiten benutzt, wie Daumenbreite28, Spanne, Fuß, Elle oder Klafter [26]. Heinrich I. von England ließ 1101 die Einheit Yard festlegen als Abstand (seines) ausgestreckten Daumens von der Nasenspitze bei ausgestrecktem Arm. Ebenso überliefert sind gegenständliche „Normale“ für die Längenmessung29. Auch unterschiedliche Anwendungsgebiete bilden sich in alten Maßeinheiten ab: So ist die Existenz einer heiligen und einer gemeinen Elle in Assyrien und Ägypten für königliche Abgaben und für den gemeinen Handel nachgewiesen. Ebenso dominierten noch bis ins 19 Jahrhundert hinein regionale Gewohnheiten30. Deutlich kommt das bei Maßen für unterschiedliche Anwendungsbereiche zum Ausdruck. In Sachsen gab es beispielsweise bis 1840 eine Straßenrute (zu 4,531 m) und eine Ackerrute (3,398 m)31. Entsprechend war die Straßenmeile („2 Wegstunden“) 9,062 km lang. Sie wurde 1840 durch die Deutsche Postmeile (7,500 km) ersetzt.
Welche Bedeutung die Einheitlichkeit von Vergleichsmaßen schon frühzeitig hatte, wird aus den Aufbewahrungsorten wie Tempel