Derartige Unsicherheiten in der Bewertung von Stoffänderungen bei thermischen Einflüssen reichen bis weit in das 19. Jahrhundert und wurden erst durch einen umfassenden Energiebegriff beseitigt. Ausgehend vom Pendel hatten sich zwar schon viele Denker mit mechanischer Energie, so dem Zusammenhang zwischen potentieller und kinetischer Energie, befasst (Wilhelm Leibniz: „Erhaltung der Kraft“), aber noch 1800 sprach Thomas Young nur von mechanischer Energie – andere energetische Phänomene waren für ihn ohne Bezug dazu. Das also war das Umfeld9, und Brandt schreibt in [2, Seite 15], dass sich Humboldt erst spät in seinem großen Werk Kosmos sehr zögerlich und nur kurz damit befasst hatte.
Die neue Technik Dampfmaschine und deren zum Betrieb erforderlichen Dampferzeuger waren aber die treibende Kraft für weitgreifende Überlegungen zu den möglichen Energieformen, deren Umwandlungsmöglichkeiten und ihrer Äquivalenz. Der deutsche Arzt Robert Mayer formulierte 1842 den Energieerhaltungssatz: „Energie kann weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur umgewandelt werden“10, und dem englischen Bierbrauer James Prescott Joule gelang 1850 der quantitative Nachweis des mechanischen Wärmeäquivalents11. Schließlich konnte gezeigt werden, dass mechanische, chemische (Josua Gibbs 1870) und Elektroenergie (Werner von Siemens 1882) einander äquivalent sind. Das aber waren Erkenntnisse, die erst nach Humboldts Lebzeiten zu Fundamentalsätzen von Naturwissenschaft und Technik wurden.
Ähnlich kontrovers verliefen die Diskussionen über die Entstehungsgeschichte der Erde. Angeregt durch seine Studien bei Abraham Gottlob Werner in Freiberg, war Humboldt anfänglich noch Neptunist12. Erst durch seine Erkenntnisse auf der Südamerikareise schwenkte er endgültig zu den Plutonisten über [5, S. 101]. Weiter ist zu bedenken, dass man, durch den Bergbau befördert, im 18. Jahrhundert schon viele Mineralien kannte. Aber noch im Jahr 1800 waren erst 32 der 92 natürlichen Elemente nachgewiesen, und es waren noch längst nicht alle physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser Elemente bekannt. Auch die Analysemethoden dafür waren mehr Empirie als Wissenschaft, denn erst mit Martin Heinrich Klaproth (1743 – 1817) setzte sich die gravimetrische Analyse (exakte Wägung der Reaktionsprodukte) allmählich durch.
Generalisierend kann gesagt werden, dass Alexander von Humboldt in einer Epoche großer gesellschaftlicher Umwälzungen lebte und wirkte [24]. Seine beiden großen Reisen nach Südamerika und Russland finden in jener Zeit statt, und sein Interesse war vordringlich auf eine physische Weltbeschreibung, wie er es nannte, gerichtet. Technologische Umwälzungen in der produzierenden Wirtschaft gab es seinerzeit erst in wenigen Ländern, und das vor allem in der englischen Textiltechnik und im Maschinenbau. Humboldt hat diese Entwicklungen sicher zur Kenntnis genommen, Wechselwirkungen mit seiner forschenden Tätigkeit betrafen aber eher die Geologie13 und die Erkundung von Rohstoffen, ganz speziell auf seiner Russlandreise [3].
Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht die damals offenbar noch weitgehend unkompliziert funktionierende Kommunikation zwischen Wissenschaftlern verschiedener Länder. Obwohl es weittragende kriegerische Auseinandersetzungen gab und oft das Wohlwollen der jeweiligen Territorialfürsten fördernd oder bremsend wirkte, konnte über die Grenzen hinweg kommuniziert werden und Kollegen im In- und Ausland bekamen offenbar recht schnell neue Informationen. Immerhin wurde mit den damals verfügbaren Kommunikationsmitteln eine Entdeckung von physikalisch-chemischen Zusammenhängen erstaunlich vielen Partnern innerhalb weniger Jahre bekannt. Derartige Bezüge zur damaligen naturwissenschaftlichen und technischen Welt bilden somit ein Umfeld für die „explorative Neugier“ [2] und das Wissenschaftsverständnis der Naturforschers Alexander von Humboldt einschließlich seiner ethnologischen Forschungen und zoologischen und botanischen Erkundungen14.
Es darf vermutet werden, dass eine wirtschaftliche Nutzung und der Erwerb von Schutzrechten, die damals eher von territorialer Reichweite waren, weniger im Vordergrund standen15. Vielleicht erschien auch manchem Gelehrten eine industrielle Verwertung in großem Umfang als noch sekundär oder sogar außerhalb seines Interesses16 - primär dominierten für manche wohl eher die wissenschaftlichen Fragestellungen17.
In den folgenden Kapiteln wird der historische Hintergrund der jeweiligen Fachgebiete mit einbezogen. Das gilt speziell für den Messvorgang: Der alte Lehrsatz Messen heißt Vergleichen betont zwar den Vergleichsaspekt beim Messen, beantwortet aber nicht die Fragen „wie messen?“ und „womit?“. Die Antworten sind ebenso vielgestaltig wie problembehaftet, und sie werden uns weitgehend beschäftigen. Wir folgen dabei gern der Feststellung von R.-R. Wuthenow im Vorwort zu [5]:
„(…)dass es um das(…)Faktum des exzessiven wie gewissenhaften Gebrauches geht, den der große Reisende von den damals neuesten und meist sehr teuren Instrumenten machte; die größte Genauigkeit bei Beobachtung und Messung war ihm eben nicht minder wichtig als die abenteuerliche Erfahrung der tropischen Welt des südlichen amerikanischen Halbkontinents“.
1.2. Instrumente und Methoden
Die Humboldt’schen Originalschriften und vor allem seine Reisetagebücher enthalten meist nur kurze Angaben über von ihm auf Reisen mitgeführte und eingesetzte Geräte und Messinstrumente. Seltener sind Aussagen über die eigentliche Wirkungsweise. Genannt wird oft der jeweilige Hersteller, auch manchmal eine Gerätenummer18. Die auf seinen Reisen geführten Tagebücher ([6] bis [12]) waren dagegen ursächlich seine persönlichen Datenspeicher im Sinne der Sammlung von vielen Fakten und Zahlenwerten, um sie dann in späteren Veröffentlichungen auswerten zu können (siehe [1]). Die damaligen Umstände auf den Reisen (Transport, Unterbringung, Wetter, Zeitprobleme) ließen offensichtlich weder Zeit noch Raum für eine sofortige umfassende Präsentation.
Jedes Messgerät hat je nach Konstruktionsprinzip eine erreichte Fertigungsgüte und zusammen mit den Einsatz- und Umgebungsbedingungen eine spezifische Aussagequalität. In heutiger Terminologie ist diese Qualität in der Messunsicherheit zusammengefasst. Die Richtigkeit eines Messergebnisses hängt zudem von dem gewählten Messverfahren, vom Versuchsaufbau, von den Umgebungsbedingungen und nicht zuletzt vom Geschick des Experimentators19 ab. In ein Gesamtergebnis gehen oft weitere Messwerte ein, die mit anderen Instrumenten gewonnen wurden und ihrerseits ebenfalls ungenau sind. Ein Gesamtergebnis und die Messabweichungen sind dann rechnerisch ermittelte Größen20, die auch von außen wirkende Einflussgrößen mit berücksichtigen21.
Festlegungen dazu, wie sie heute in internationale Normen umfassend Eingang gefunden haben, gab es vor zweihundert Jahren nicht. Aus den Angaben in Humboldts Tagebüchern lassen sich aber Grenzen ableiten, innerhalb deren der „richtige“ Wert eines Einzelwertes gelegen hat. Dieser Problematik war sich Humboldt sehr wohl bewusst, weil er immer darauf bedacht war, eine zu bestimmende Größe mehrfach zu messen und deshalb eine Einzelmessung entsprechend kritisch bewertete. Mit dem Zusammenfassen von Einzelwerte sollten Naturgesetzlichkeiten durch hinreichend sichere Zahlen aufgefunden und belegt werden, wohl wissend, dass der entsprechende Wissensvorrat insgesamt unzureichend sein konnte22.
Zur Zeit seiner Amerikareise war zum Beispiel die Bildung eines einfachen arithmetischen Mittelwerts die noch übliche Verfahrensweise, d. h. die wiederholt an gleicher Stelle und unter gleichen Bedingungen gemessenen Einzelwerte wurden aufsummiert und durch die Anzahl der Messungen geteilt. Diese Zusammenfassung von einzelnen Messwerten zu einem „mittleren“ Wert musste erwartungsgemäß sicherer sein als ein Einzelwert.
Carl Friedrich Gauß befasste sich in Hannover seinerzeit ausgiebig mit der Auswertung von astronomischen Messungen und entwickelte daraus die Methode der kleinsten Quadrate: Die Summeaus denQuadratenderAbweichungen wird minimiert, was auf das wahrscheinlichste Ergebnis für eine vorher gewonnene große Zahl von Messwerten führt. Mit dieser Methode werden Fehler der Einzelbeobachtungen mehr oder weniger gut ausgeglichen („Ausgleichsrechnung“), und sie ist unentbehrlich für eine exakte Auswertung von Beobachtungs- und Messergebnissen23. Gauß hatte sich schon früh damit beschäftigt, aber erstmals 1810 darüber publiziert. Da Humboldt mit Carl Friedrich Gauß