334
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist zwar nach allgemeinen Grundsätzen nicht als Verwaltungsakt anzusehen, aufgrund der speziellen Vorschriften des Zulassungsverfahrens bedarf es jedoch auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zwingend eines Beschlusses gemäß § 36 Ärzte-ZV, also einer Sitzung.[636] Soweit es um Zulassungen und Zulassungsentziehungen geht, ist fraglich, ob es auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung dieser Entscheidungen einer mündlichen Verhandlung bedarf oder ob diese Anordnung ohne mündliche Verhandlung erfolgen kann. Für letzteres spricht, dass der Zweck der mündlichen Verhandlung, die verbesserte Klärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts[637] bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung bereits erreicht ist, und dass die Vollzugsanordnung ein bloßer Annex zur Hauptsacheentscheidung ist. Einer mündlichen Verhandlung bedarf es für die Anordnung somit nicht.
e) Begründungspflicht
335
Die besondere Begründung für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung ist aus rechtsstaatlichen Gründen geboten.[638] Ohne einzelfallbezogene Begründung, warum ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit erforderlich ist, ist die Anordnung rechtswidrig, so dass die aufschiebende Wirkung auf Antrag des Betroffenen gemäß § 86a Abs. 3 bzw. § 86b Abs. 1 SGG wiederherzustellen ist. Mit (neuer) Begründung kann die sofortige Vollziehbarkeit jederzeit wieder angeordnet werden.[639]
336
Inhaltlich muss die Begründung nicht besonders detailliert sein, vielmehr braucht das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug, d.h. dessen tragende Gesichtspunkte, nur „schlaglichtartig“ dargelegt zu werden.[640] Die Begründungspflicht dient der Transparenz und Rechtsklarheit, sie soll die Entscheidungsinstanz zu besonderer Sorgfalt anhalten und damit eine Warnfunktion erfüllen. Aus der Begründung muss hervorgehen, dass und warum im konkreten Fall dem Vollziehbarkeitsinteresse Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen eingeräumt werden muss und warum dies verhältnismäßig ist.[641]
aa) Anordnung im öffentlichen Interesse
337
Das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Beschlusses stellt sich als das Ergebnis einer Abwägung aller im konkreten Fall betroffenen öffentlichen und privaten Interessen dar, unter Berücksichtigung der Natur, Schwere und Dringlichkeit des Interesses an der Vollziehung bzw. an der aufschiebenden Wirkung und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Folgen der Anordnung oder ihres Unterlassens rückgängig zu machen.[642] Die aufschiebende Wirkung ist die Regel, die sofortige Vollziehbarkeit ist die Ausnahme.[643] Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist gerechtfertigt, wenn eine umfassende Abwägung zu dem Ergebnis kommt, dass das Interesse an der Vollziehbarkeit schwerer wiegt als das gegenläufige Interesse an der aufschiebenden Wirkung.[644] Das öffentliche Interesse an der Anordnung einer sofortigen Vollziehung verlangt mehr als das für den Erlass des Verwaltungsakts erforderliche Interesse. Notwendig ist ein zusätzliches öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, so dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsakts nicht zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ausreichen.[645] Bei Statusentziehungen (z.B. Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung) sind besonders hohe Anforderungen zu stellen. Hier müssen überwiegende öffentliche Belange es auch mit Blick auf die Berufsfreiheit des Betroffenen rechtfertigen, seinen Rechtsschutzanspruch gegen den Beschluss der Zulassungsgremien einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten.[646] Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist zu beachten.[647]
338
Bei der Abwägung sind primär die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs (d.h. der Anrufung des Berufungsausschusses bzw. der Klage) von Bedeutung,[648] weswegen die Rechtmäßigkeit des zugrundeliegenden Beschlusses summarisch geprüft werden muss.[649] Ist der Rechtsbehelf erkennbar aussichtslos, fällt die Abwägung von vornherein zugunsten der Vollziehbarkeit aus.[650] Ist der Verwaltungsakt erkennbar rechtswidrig, fällt die Abwägung von vornherein gegen die sofortige Vollziehbarkeit aus.[651] Ist keiner dieser Fälle gegeben, bedarf es der umfassenden Berücksichtigung aller betroffenen Interessen,[652] d.h. aller betroffenen (Grund-)Rechte und Pflichten, Werte und Güter, Risiken und Gefahren, Vorteile und Nachteile sowie aller gedachten Folgen.[653] Zulassungsgremien und Sozialgerichte haben viel Raum für weitreichende Interessenabwägungen,[654] müssen dabei aber die betroffenen Belange zutreffend erfassen und abwägen.[655]
339
Selbst wenn der Rechtsbehelf gegen den Beschluss erkennbar aussichtslos ist, muss bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung zusätzlich begründet werden, warum ein besonderes Interesse gerade daran besteht, dass die Rechtswirkungen des Beschlusses schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens eintreten.[656] In Zulassungs- und Ermächtigungssachen kann sich dieses Interesse aus der Notwendigkeit der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten ergeben.[657] In Nachbesetzungsverfahren kann bei der Anordnung des Sofortvollzugs auch das Interesse des Praxisabgebers am Erhalt des wirtschaftlichen Werts der Praxis berücksichtigt werden.[658] Bsp.: Spricht nach summarischer Prüfung manches dafür, dass eine (qualitative) Versorgungslücke besteht, so kann sich daraus ein überwiegendes Interesse des die Ermächtigung begehrenden Krankenhausarztes ergeben, bereits vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens von der Ermächtigung Gebrauch zu machen.[659] Müssen konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abgewendet werden (z.B. Gesundheitsgefährdungen der Versicherten) oder besteht Anlass zu der Annahme, der Arzt werde sein gröbliches Fehlverhalten unverändert fortsetzen, kann die sofortige Vollziehung der Zulassungsentziehung angeordnet werden.[660]
bb) Anordnung im überwiegenden Interesse eines Beteiligten
340
Der Berufungsausschuss ist bei seiner Entscheidung über die Anordnung der sofortigen Vollziehung trotz des Wortlauts des § 97 Abs. 4 SGB V nicht auf Aspekte des öffentlichen Interesses beschränkt, sondern kann die Anordnung auch auf überwiegende Interessen eines Beteiligten stützen.[661] Das BSG lässt die Anordnung der sofortigen Vollziehung im überwiegenden Interesse eines Beteiligten zu, etwa dann, wenn dieser von der ihm zugebilligten Rechtsposition überhaupt nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen kann, kein Hauptsacheverfahren abwarten zu müssen. Z.B. kann es im Verfahren über die Nachbesetzung eines in einer Gemeinschaftspraxis ausgeübten Vertragsarztsitzes im Interesse der in der Gemeinschaftspraxis verbleibenden Vertragsärzte geboten sein, dem vom Zulassungsausschuss zugelassenen Nachfolger durch Anordnung der sofortigen Vollziehung die Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit zu ermöglichen; die Feststellung der Überversorgung steht dem nicht entgegen.[662] Es reicht allerdings nicht jedes persönliche Interesse des Beteiligten aus, insbesondere nicht das bloße Verdienstinteresse eines Ermächtigten, der bereits durch sein Gehalt als angestellter Arzt finanziell ausreichend gesichert ist.[663]
a) Grundlagen
341
Für den gerichtlichen vorläufigen Rechtsschutz ist zwischen Anfechtungssachen und Vornahmesachen zu unterscheiden. In Anfechtungssachen betrifft der vorläufige Rechtsschutz die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs. Es geht also entweder um die sofortige Vollziehung oder um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Der vorläufige Rechtsschutz durch die Gerichte richtet sich in diesen Fällen nach § 86b Abs. 1 SGG.[664]
342
In Vornahmesachen richtet sich der gerichtliche Rechtsschutz nach