II. Einsatzmöglichkeiten der SE
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Die SE, die auch als „Flaggschiff des europäischen Gesellschaftsrechts” bezeichnet wurde,[1] feiert in diesem Jahr ihren zehnten Geburtstag. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit hat sie unter Beweis gestellt, dass sie diesem Anspruch gerecht wird, und sich als wettbewerbsfähige Rechtsform durchgesetzt. Mittlerweile gibt es europaweit mehr als 2 100 SE, davon in Deutschland knapp 300.[2] Sie ist auch auf den Kapitalmärkten anerkannt, was sich darin niederschlägt, dass immerhin europaweit 75 und in Deutschland 23 SE[3] börsennotiert sind.[4] Dass sie von der Praxis angenommen wurde und wird, hängt damit zusammen, dass sie aufgrund ihrer Besonderheiten und Einsatzmöglichkeiten zahlreiche Vorteile gegenüber der nationalen AG bietet.
I. Wesentliche Besonderheiten der SE
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Die SE ist durch zahlreiche Besonderheiten geprägt, die in diesem Handbuch ausführlich und detailliert dargestellt werden. Von diesen sollen im Folgenden die wesentlichen Besonderheiten herausgegriffen werden, die die Praxistauglichkeit der SE in besonderem Maße beeinflussen. Folgerichtig handelt es sich dabei auch um die in der Unternehmenspraxis am häufigsten genannten Motive für durchgeführte SE-Umwandlungen.[5]
1. Möglichkeit der grenzüberschreitenden Sitzverlegung
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Nach Art. 8 SE-VO kann eine SE ihren Satzungssitz über die Grenze in einen anderen Mitgliedstaat verlegen.[6] Hierbei handelt es sich um eine identitätswahrende Sitzverlegung, d.h. – anders als regelmäßig bei grenzüberschreitenden Sitzverlegungen anderer Gesellschaftsformen – führt die grenzüberschreitende Sitzverlegung der SE nicht zur Auflösung und Neugründung. Konsequenterweise ist auch die Zustimmung der Gläubiger der SE zur Sitzverlegung nicht erforderlich.[7] Aufgrund des identitätswahrenden Charakters hat die grenzüberschreitende Sitzverlegung auf den Aktionärskreis grundsätzlich keine Auswirkungen.[8] Grundsätzlich ist zwar seit der Cartesio-Entscheidung[9] und der Vale-Entscheidung[10] des EuGH der grenzüberschreitende Formwechsel in einen anderen Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen zulässig, mangels entsprechender europäischer Rechtsetzung allerdings bisher mit erheblichen Rechts- und Verfahrensunsicherheiten verbunden.[11]
2. Wahlrecht zur Organisationsverfassung
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Die SE-VO überlässt es dem Satzungsgeber der SE, sich hinsichtlich der Organisationsverfassung zwischen dem dualistischen und dem monistischen System zu entscheiden (Art. 38 b SE-VO).[12] Danach kann die SE wahlweise nach dem sog. Trennungsprinzip mit einem Leitungsorgan[13] und einem Aufsichtsorgan[14] oder entspr. dem anglo-amerikanischen Board-System mit einem einheitlichen Verwaltungsorgan[15] ausgestattet werden. Von wenigen Mitgliedstaaten abgesehen, die auch ihrer AG nationaler Prägung beide Leitungssysteme zur Wahl stellen, weist die Verfassung der SE gegenüber der AG insoweit ein deutlich höheres Maß an Flexibilität auf.
3. Verhandlungslösung für die Arbeitnehmermitbestimmung
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Die im europäischen Rechtsetzungsverfahren zur SE am heftigsten umstrittene Mitbestimmungsfrage ist im Wege eines Kompromisses durch das Prinzip der Verhandlungslösung geregelt worden.[16] Vorrangiges Ziel ist es danach, eine Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung zwischen den Unternehmensleitungen der beteiligten Rechtsträger und den betroffenen Arbeitnehmern, die dabei durch ein besonderes Verhandlungsgremium vertreten werden, herbeizuführen. Der Inhalt der zu treffenden Vereinbarung ist den Parteien weitgehend freigestellt. Die SE-RL und die nationalen Umsetzungsvorschriften – in Deutschland das SEBG – stellen lediglich einige Mindestvorgaben auf. Nur wenn bis zum Ende des Verhandlungszeitraums keine Vereinbarung zustande kommt, ohne dass das besondere Verhandlungsgremium von sich aus die Verhandlungen abbricht, greifen die jeweiligen nationalen Auffangregelungen ein. Der Verhandlungszeitraum beträgt regelmäßig sechs Monate, kann jedoch einvernehmlich auf maximal ein Jahr verlängert werden. Diese lange Verfahrensdauer, die durch die Zeitspanne für die Bildung des besonderen Verhandlungsgremiums noch um weitere drei Monate verschärft wird, kann zu erheblichen Problemen bei der Gründung der SE führen, im Einzelfall die Rechtsform der SE sogar unattraktiv machen.[17] Durch das sog. Vorher-Nachher-Prinzip wird das höchste in den beteiligten Gesellschaften existierende Mitbestimmungsniveau erhalten und auf die gesamte SE ausgedehnt, sodass die Möglichkeiten einer „Flucht aus der Mitbestimmung“ begrenzt sind. Dennoch bietet das Prinzip der Verhandlungslösung eine begrüßenswerte Chance zur Flexibilität.
4. Die SE als Instrument für corporate identity und branding
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Die SE dokumentiert die europäische Ausrichtung und den europäischen Auftritt des diese Rechtsform annehmenden Unternehmensträgers und steht damit für dessen supranationalen Charakter. Dies macht die SE nicht nur zu einer einzigartig neutralen Rechtsform, sondern zugleich ihre Rechtsform selbst zu einem Marketinginstrument. Sie dient unternehmensintern der Bildung einer europäischen Unternehmenskultur (corporate identity) und nach außen einer europäischen Markenbildung (branding). Dies kann ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein – nicht nur im Wettbewerb um Kunden, sondern auch um qualifizierte Arbeitskräfte.
1. Allgemeines
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Die Rechtsform der SE bietet sich für zahlreiche Einsatzmöglichkeiten an.[18] Sie ist nicht nur für international tätige Konzerne attraktiv ist, sondern auch für kleine und mittlere Unternehmen. Dies entspricht dem im 13. Erwägungsgrund niedergelegten Ziel der SE-VO.
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Die SE-VO hat in die Entwicklung und Harmonisierung des europäischen Gesellschaftsrechts neuen Schwung gebracht. Dies gilt sowohl für die Schaffung der Europäischen Genossenschaft (SCE)[19] und die Richtlinie über die grenzüberschreitende Verschmelzung[20] als auch für die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit, die es Unternehmen ermöglicht, ihren Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen,[21] und zur Zulässigkeit des grenzüberschreitenden Formwechsels.[22] Ferner veranlasste die Kommission im Juni 2013 eine öffentliche Konsultation zur geplanten europäischen Einpersonen-Gesellschaft (Societas Europaea UniPersonam – SEUP)[23], und im Juli 2013 sprach sich das Europäische Parlament für die Einführung einer europäischen Stiftung auf der Grundlage des vom Rat vorgelegten Entwurfs einer Verordnung über das Statut einer europäischen Stiftung (Fundatio Europaea – FE) vom 8.2.2012[24] aus.[25] Die weiteren Schritte auf diesem Weg werden die Besonderheiten der SE zwar relativieren, ihre Praxistauglichkeit jedoch nicht einschränken oder gar in Frage stellen.
2.1 Vollfusion gleichberechtigter Gesellschaften (merger of equals)
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Streben zwei Gesellschaften aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten eine grenzüberschreitende Fusion an, eignet sich hierfür die Errichtung einer SE im Wege einer Verschmelzung durch Neugründung in besonderem Maße.[26] Die Gründung einer SE ermöglicht die grenzüberschreitende Verschmelzung, bei der die Fusionspartner