a) Einordnung
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Ähnliche Fragen der Konformauslegung (im engeren Sinne wie auch im Sinne einer an anderen exponierten normenorientierten Auslegung der Strafgesetze), wie sie unter 1., 2. für das GG diskutiert wurde, können sich im Prinzip immer stellen,[138] wo ein Nebensachverhalt nicht nur durch Strafgesetze geregelt wird, sondern thematisch auch in den Anwendungsbereich anderer Vorschriften fällt. Die entsprechenden Fragen tauchen vor allem dann auf, wenn diese anderen Gesetze entweder formal (normenhierarchisch) übergeordnet sind (wie das GG) oder aber ein sonstiger Vorrang postuliert wird (wie etwa für das Unionsrecht) bzw. zumindest eine von anderweitig eingegangenen Verpflichtungen abweichende Handhabung rechtspolitisch unerwünscht ist.[139]
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Da es sich beim Strafrecht in der Regel um Bundesrecht in Gestalt von formellem Gesetzesrecht handelt, bestehen solche „Vorrangverhältnisse“ im weiteren Sinne außer gegenüber der Verfassung insbesondere (wenn nicht gar ausschließlich) gegenüber internationalen Vorgaben, insbesondere als gegenüber der EMRK und dem Unionsrecht.[140] Bei ihnen dürfte freilich im Einzelfall die Grenze zwischen einer Konformauslegung im engeren Sinn und einer an den internationalen Vorgaben „nur“ orientierten Auslegung noch stärker verfließen als oben im Verhältnis zum Verfassungsrecht dargestellt, da die Frage nach einer „Verletzung“ der internationalen Vorgaben durch eine bestimmte nationalrechtliche Rechtsanwendung im Einzelfall noch schwieriger zu beantworten sein dürfte.[141]
b) Konformauslegung mit Blick auf die EMRK
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Großen Einfluss zumindest auf das Strafverfahrensrecht hat in der jüngeren Vergangenheit die EMRK gewonnen.[142] Die Bedeutung ist in Deutschland zwar wohl nicht so groß, wie etwa in der Schweiz oder in Österreich, da durch die vergleichsweise stark ausgebaute nationale Verfassungsgerichtsbarkeit (insbesondere auch mit der etablierten Möglichkeit der Individualverfassungsbeschwerde) viele Grundrechtsverletzungen schon auf dieser Ebene „abgefangen“ werden können. Rechtsprechung des EGMR, die (wenngleich natürlich nicht nur) zu ausländischen Rechtsordnungen in Bezug auf eine bestimmte Problemlage ergangen ist, wird aber zunehmend auch in Deutschland zur Kenntnis genommen. Im Mittelpunkt steht hier die zentrale Prozessnorm des Art. 6 EMRK, die neben immer wieder zitierten Einzelausprägungen (wie etwa dem Beschleunigungsgebot) vor allem auch eine mehr oder weniger explizite Kodifikation des im Strafprozessrecht oftmals bemühten Fair-Trail-Grundsatzes enthält. Rein „begrifflich“ wird hierbei freilich vergleichsweise häufig unmittelbar auf die entsprechenden Garantien zurückgegriffen (die in Deutschland ja zumindest auch im Rang des einfachen Bundesrechts gelten, vgl. Art. 59 Abs. 2 GG[143]),[144] und nicht auf das nationale Recht, welches dann etwa im Lichte des Art. 6 EMRK ausgelegt würde.
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Demgegenüber sind die Einflüsse der EMRK auf das materielle Strafrecht geringer, werden aber auch immer wieder erwähnt und sind zumindest nicht gänzlich zu vernachlässigen.[145] Beispielhaft mag hier Art. 2 EMRK genannt werden, der immer wieder als Einschränkung des Notwehrrechts diskutiert wird. Es gibt zwar gute Gründe, dies im Ergebnis nicht so zu sehen, da es sich bei der Notwehr regelmäßig um die individuelle Rechtfertigung eines Bürgers für einen gerade vom Staat ihm gegenüber erhobenen Vorwurf handelt, während die Garantien der EMRK insbesondere den Staat im Verhältnis zum Bürger schützen sollen. Gleichwohl wird der Gedanke einer Beschränkung des § 32 StGB durch Art. 2 EMRK in der jüngeren Zeit durch einflussreiche Stimmen in der Literatur verstärkt aufgegriffen.[146]
c) Unionsrechtskonforme Auslegung
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aa) Ein insbesondere im materiellen Strafrecht zunehmend einflussreicher (und in der Bedeutung wohl über die EMRK hinausgehender) Topos ist die unionsrechtskonforme Auslegung,[147] welche das allgemeine Phänomen bzw. den Oberbegriff zu dem häufig diskutierten Spezialfall der (mitunter wohl auch als pars pro toto begrifflich herangezogenen) „richtlinienkonformen Auslegung“[148] darstellt.[149]
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Die Grundlagen der Diskussion einer unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts sind nicht strafrechtsspezifisch (und liegen vielmehr historisch sogar außerhalb des Strafrechts). Genannt werden können hierzu zum einen die (arbeitsrechtlichen) Entscheidungen des EuGH in den Fällen „von Colson und Kamann“[150] sowie „Harz“.[151] Der Gerichtshof stellt in ihnen klar, dass alle Träger der öffentlichen Gewalt und damit auch die Gerichte bei der Rechtsanwendung verpflichtet sind, alle zur Verwirklichung eines Richtlinienziels erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Die in der Folgezeit weiter entwickelten unionsrechtlichen Grundlagen eines solchen Gebotes der unionsrechtskonformen Auslegung werden – mit unterschiedlichen Nuancierungen im Detail – einerseits im Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 UA 2, 3 AEUV (= Art. 10 EGV a.F.) und in der Umsetzungsverpflichtung des Art. 288 UA 3a AEUV (= Art. 249 Abs. 3 EGV a.F.) gesehen.[152] Daraus ergibt sich eine Bindung des Rechtsanwenders an die unionsrechtlich (insbesondere durch Richtlinien) verfolgten Ziele jedenfalls nach Ablauf einer entsprechenden den Mitgliedsstaaten zugestandenen Umsetzungsfrist.[153] Da es sich hierbei um – wenngleich historisch überwiegend anhand von Richtlinien entwickelte – allgemeine unionsrechtliche Verpflichtungen handelt, gelten diese Grundsätze auch nicht nur für Richtlinien, sondern für alle Akte, welche einerseits einer Umsetzung bedürfen, andererseits jedoch verpflichtend umzusetzen sind. Insoweit ist auch – freilich innerhalb der hier vielfach weiteren Grenzen des Umsetzungsspielraums – eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung letztlich anzuerkennen (wenngleich hierdurch die Differenzierung der bis zum Vertrag von Lissabon in besonderer Weise betonten drei Säulen teilweise verwischt wird).[154] Daneben können aber auch die Freiheiten des Primärrechts (insb. die Waren- und Dienstleistungsfreiheit) nationale Straftatbestände im Kollisionsfall „neutralisieren“.[155]
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Neben der unionsrechtskonformen Auslegung als (zwar das deutsche Recht betreffende, aber) letztlich unionsrechtlich geschuldete Methode kann sich das Erfordernis einer Berücksichtigung von europäischen Rechtsakten auch aus den klassischen „allgemeinen“ Auslegungsmethoden ergeben. Insbesondere im Rahmen einer historischen Auslegung können neben den nationalstaatlichen Gesetzesbegründungen selbstverständlich auch die europäischen Rechtsakte, welche etwa die Grundlage einer neuen Strafnorm bilden, sowie deren Entstehungsgeschichte heranzuziehen sein.
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bb) Die unionsrechtskonforme Auslegung betrifft zunächst die Durchsetzung der entsprechenden Ziele bei der Auslegung solcher Normen, welche in Umsetzung des Unionsrechts geschaffen worden sind. Nach nicht unbestrittener, aber h.M. ist sie jedoch auch darüber hinaus bzw. unabhängig von der Entstehung einer Vorschrift als Umsetzung europäischen Rechts anwendbar.[156] Der Interpretationsakt ist dabei ein mehrstufiger bzw. „mehrphasiger“, da nicht nur die nationale Vorschrift anhand des Sekundärrechtsakts (z.B. der Richtlinie), sondern beide (nationale Vorschrift und Sekundärrechtsakt) anhand des primärrechtlichen