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Die Intensität der systematisch-grundgesetzlichen Argumentation wird dabei umso größer, je problematischer eine bestimmte Interpretation sub specie constitutionis wird;[121] denn das Grundgesetz gebietet nicht kategorisch eine optimale Verwirklichung eines Grundrechtes[122] (was auf Grund der steten Kollisionen verfassungsrechtlicher Rechtspositionen ohnehin nicht möglich ist), verbietet aber die völlige Vernachlässigung eines Grundrechts zugunsten anderer Interessen. Anders als bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung einer Strafnorm als solcher ist bei der Auslegung eine Aussage über eine mehr oder weniger gute Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen Garantien also durchaus sinnvoll. Lassen sich hier signifikante Unterschiede feststellen, ist auch diesseits „harter Verfassungswidrigkeit“ die nähere Orientierung an den Grundrechten ein gewichtiges systematisches Argument bei der Rechtsfindung.
bb) Insbesondere die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
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(1) Die Einschlägigkeit des jeweiligen grundrechtlichen Schutzbereichs ist ebenso wie sich daraus etwa ergebende qualifizierte Anforderungen an die Rechtfertigung stets eine Frage des Einzelfalls. Gewisse allgemeine Aussagen sind aber zur Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als einem wichtigen Bestandteil jeder Grundrechtsprüfung möglich.[123] Dieser besagt bekanntlich, dass Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Positionen nur erlaubt sind, wenn sie zur Verfolgung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich (d.h. das relativ mildeste Mittel) und angemessen (verhältnismäßig i.e.S.) sind.
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(2) Geht es nun um die Operationalisierung dieses Prinzips bei der Auslegung, wird die erste Stufe der Verfolgung eines legitimen Zweckes regelmäßig unproblematisch sein. Unabhängig davon, wie man das insbesondere mit der „Inzest-Entscheidung“ des BVerfG und der nachfolgenden Diskussion[124] wieder verstärkt ins Blickfeld geratene Verhältnis zwischen „legitimem Zweck“ und „strafrechtlichem Rechtsgut“ exakt definiert, wird für den Regelfall davon auszugehen sein, dass mit der Anwendung einer Strafnorm ein solcher legitimer Zweck verfolgt wird.
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(3) Damit die Anwendung (und damit eine bestimmte Auslegung) zur Erreichung dieses Ziels auch geeignet ist, muss sie den entsprechenden Zweck fördern. Insoweit ist freilich zu beachten, dass das BVerfG bei der Überprüfung der Geeignetheit sehr großzügig ist[125] und die „Zwecktauglichkeit“ nur verneint, wenn die Mittel „objektiv“ und „schlechthin ungeeignet“ sind.[126] Dies gilt zunächst einmal hinsichtlich der Strafvorschrift selbst, muss dann aber auch für die Überprüfung der Normanwendung gelten, solange dabei nur diese Einschätzungsprärogative umgesetzt wird.[127] Daher müssen alle Bedenken hinsichtlich der empirisch kaum belegten und belegbaren Effektivität des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz[128] erst einmal zurückstehen. Selbst dann ist aber im konkreten Anwendungsfall die Effizienz für den Rechtsgüterschutz gering, wenn die durch eine Sanktionsandrohung verhinderte Kausalkette auch leicht anderweitig – ggf. sogar legal – vom Täter geknüpft werden kann.[129] Das macht aber eine Auslegung, die zu einer Strafdrohung kommt, damit nicht per se ungeeignet. Denn wenn man – für die Eignungsprüfung wohl unumgänglich – alternative hypothetische Abläufe mit berücksichtigt, muss man konsequenterweise auch deren gesamtes mögliches Spektrum miteinbeziehen, so dass die alternativen Rechtsgutverletzungen durchaus mit Unsicherheiten behaftet sein können. Allerdings wäre eine im konkreten Fall nur schwache Eignung zum Rechtsgüterschutz bei der Angemessenheitsprüfung noch einmal zu berücksichtigen.
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(4) Das Kriterium der Erforderlichkeit verlangt kurz gesagt, dass der verfolgte Zweck nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel erreichbar sein darf. Dieses Gebot des mildesten Mittels ist in vielen Fällen zwar Hauptansatzpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung,[130] allerdings wird auch hier dem Gesetzgeber eine erhebliche Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Effektivität unterschiedlicher Mittel zugestanden.[131] Diese wirkt sich notwendigerweise z.T. auch auf die Gesetzesanwendung aus, soweit die Effektivitätsprognose des Gesetzgebers sich in der Anwendung niederschlägt.
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(5) Als letzter Prüfungsschritt ist schließlich nach der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i.e.S.) der Anwendung einer Strafnorm auf einen konkreten Sachverhalt zu fragen. Dieses Kriterium verlangt kurz gesagt, dass Grundrechtseingriff und Ertrag für den verfolgten Zweck nicht außer Verhältnis zueinander stehen. Eine solche weiter ausgreifende und weniger durch Einschätzungsprärogativen beschnittene Abwägung birgt aber natürlich gewisse Gefahren. Insoweit verwundert nicht, wenn Lagodny zu einer zurückhaltenden Prüfung der Angemessenheit auffordert. Da dieser Maßstab besonders vage sei und den Subjektivismen des Rechtsanwenders zu große Bedeutung einzuräumen drohe, seien die Sachprobleme der Prüfung möglichst nicht dort zu entscheiden, sondern schon auf den Prüfungsstufen „vorher“ abzuarbeiten.[132] Diese Mahnung ist zwar grundsätzlich berechtigt. Allerdings darf man die Augen nicht davor verschließen, dass eine solche vorherige Abschichtung eben nicht immer möglich ist – oder jedenfalls nicht, ohne auf den vorherigen Stufen versteckt solchen subjektiven Wertungen Raum zu verschaffen, was dann aber nicht einmal als Abwägungsvorgang offen gelegt wird. Mithin besteht zwar Grund für eine selbstkritische Zurückhaltung, nicht aber für eine übertriebene Scheu vor Erwägungen zur Angemessenheit.[133] Dies gilt umso mehr, als eine Prüfung auf der letzten Stufe des Schemas zumindest teilweise auch Folge des Zugeständnisses mehr oder weniger großer Einschätzungsprärogativen auf den Ebenen der Geeignetheit und Erforderlichkeit ist.
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Strukturell können dann Überlegungen wie folgt eine Rolle spielen: Auf einer ganz abstrakten Ebene können der Wert[134] der durch die Pönalisierung eines Verhaltens (kraft zur Anwendung eines Straftatbestandes führender Auslegung) geschützten Rechtsgüter und des verkürzten Grundrechts oft nur schwer verglichen werden. Grob verallgemeinernd kann man aber wohl die Hypothese aufstellen, dass für den überwiegenden Teil der Straftatbestände des StGB eher ein Vorrang im abstrakten Wert für das jeweils geschützte Rechtsgut als für die betroffenen Grundrechte besteht,[135] ohne dass diese freilich als völlig vernachlässigenswert zurücktreten würden. Aussagekräftiger ist eine konkretere Bewertung, bei der die Intensität der Beeinträchtigung der jeweiligen Interessen ins Blickfeld gerät. Betrachtet man auf dieser konkreteren Ebene die Tatbestände des StGB und das Interesse des Grundrechtsträgers, wird der Vorrang der strafrechtlich geschützten Güter oft noch deutlicher: Denn diese werden durch viele im Gesetz verbotene Verhaltensweisen mehr oder weniger irreparabel beeinträchtigt, jedenfalls aber in signifikanter Weise gefährdet und damit in ihrem Kernbestand betroffen. Die Grundrechte dagegen scheinen oft nur in Randmodalitäten, nämlich hinsichtlich einiger weniger deliktisch relevanter Verhaltensweisen