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cc) Umstritten ist (wenngleich vielleicht teilweise auch nur scheinbar), ob eine Rangfolge zwischen unionsrechtskonformer Auslegung und weiteren Auslegungsargumenten angegeben werden kann. Teilweise wird in der Literatur der Eindruck vermittelt, als ob der unionsrechtskonformen Auslegung gegenüber etwa dem klassischen Methodenkanon ein absoluter Vorrang zukomme,[159] im Ergebnis dürfte wohl ein zwingender Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegungsargumente nicht begründbar sein. Insbesondere ist die im Europarecht anerkannte Lehre vom „Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht eine Kollisionsregel, die dem Widerspruch zwischen unmittelbar geltendem Unionsrecht und nationalem Recht betrifft“,[160] nicht aber die Rangfolge von mittelbar wirkenden Auslegungsargumenten. Dies schließt nicht aus, einen relativen Vorrang im Sinne einer Vorzugsregel jedenfalls dann anzunehmen, wenn im Übrigen (freilich eher als theoretischer Fall denkbar) auslegungsmäßig eine Patt-Situation entsteht.[161] Ein Anwendungsvorrang kommt demnach nur zum Tragen, wenn im Sinne einer streng verstandenen Konformauslegung ein bestimmtes Auslegungsergebnis europäisches Recht im Kern verletzen würde; in der großen Mehrzahl der Fälle, in denen eine „unionsrechtskonforme Auslegung“ (in einem weiteren Sinne verstanden) „nur“ die Ziele der Unionsrechtsakte möglichst optimieren möchte, ist das Verhältnis kein zwingendes, sondern das Auslegungsargument letztlich mit anderen abzuwägen.[162]
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Eine solche Sichtweise erklärt dann auch relativ zwanglos, weshalb jedenfalls der Normalfall einer unionsrechtsorientierten Auslegung z.B. auch nicht über das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG oder andere allgemeine, verfassungsrechtlich verbürgte strafrechtliche Grundsätze hinwegführen kann.[163] Dies bedeutet freilich nicht, dass jede strafbarkeitserweiternde Auslegung gegenüber einem bisher gefundenen Auslegungsstand anhand von unionsrechtskonformen Argumenten untersagt wäre;[164] letztlich wirkt sich aus, dass die unionsrechtskonforme Auslegung (jedenfalls im weit verstandenen Sinne einer auch unionsrechtsorientierten Auslegung) letztlich eben auch „nur“ ein Auslegungsargument ist und sich die Auslegung von Gesetzen bei der Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte bzw. (ganz ähnlich bei der systematischen Auslegung) bei einer Änderung der flankierenden Bestandteile der Rechtsordnung ebenfalls ändern kann. Inwieweit dann bei einer „eigentlich angezeigten“ geänderten Auslegung für eine Übergangsphase noch allgemeiner Vertrauensschutz gewährt werden muss[165] bzw. zumindest über die Zubilligung eines gegebenenfalls unvermeidbaren Verbotsirrtums „hinweggeholfen“ werden kann, beurteilt sich insoweit dann nach allgemeinen Grundsätzen.
1. Die Divergenz zwischen theoretischer Behandlung und praktischer Bedeutung einer „strafrahmenorientierten Auslegung“
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Die Frage, welche Bedeutung der Rechtsfolge bzw. konkreter: dem Strafrahmen für die Auslegung zukommt, erfährt strukturell zwei ganz unterschiedliche Antworten: Stellt man sie an die klassischen Darstellungen der Auslegungsmethoden im Strafrecht oder in Lehrbüchern oder in Kommentaren zu bzw. vor § 1 StGB, taucht das Stichwort (oder auch nur das Phänomen) dort oft gar nicht auf;[166] betrachtet man dagegen spezielle Auslegungsfragen (vor allem zum Besonderen Teil), greifen Rechtsprechung und Literatur durchaus immer wieder auf den Strafrahmen zurück. Exemplarisch kann hier nicht nur die immer wieder erhobene Forderung nach einer restriktiven Auslegung der – oder jedenfalls einzelner – Mordmerkmale mit Blick auf die Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in § 211 StGB genannt werden,[167] sondern auch auf Beispiele wie die Frage, ob das vertragswidrige Abheben von Bargeld an Bankomaten durch den an sich berechtigten Karteninhaber als Computerbetrug nach § 263a StGB, als Scheckkartenmissbrauch nach § 266b StGB oder aber nach beiden Vorschriften strafbar ist: Der BGH hält bereits tatbestandlich alleine § 266b StGB für einschlägig und führt dann zu § 263a StGB u.a. aus: „Für die hier vertretene Auffassung spricht zudem, dass der Gesetzgeber (. . .) zugleich mit § 263a StGB auch § 266b StGB eingeführt hat. Diese Vorschrift stellt ein (. . .) Sonderdelikt dar, das die vertragswidrige Bargeldbeschaffung mit einer gegenüber §§ 263, 263a StGB geringeren Strafe bedroht. (. . .) Erfasste man den Missbrauch der Scheckkarte als Codekarte am Geldautomaten durch ihren berechtigten Inhaber als Computerbetrug nach § 263a StGB, führte dies zu erheblichen Wertungswidersprüchen im Hinblick auf die unterschiedlichen Strafrahmen von § 263a und § 266b StGB (. . .).“[168]
2. Zur Abgrenzung: Strafrahmenorientierung und allgemeine Folgenorientierung
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Bevor im Anschluss das formale Verhältnis der „strafrahmenorientierten Auslegung“ zu den klassischen Auslegungstopoi (unten 3. [Rn. 75 ff.]), ihre inhaltliche Berechtigung (unten 4. [Rn. 86 ff.]), aber auch die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit (abschließend 5. [Rn. 94 ff.]) dargestellt werden,[169] ist sie begrifflich kurz von der auf den ersten Blick ähnlich klingenden sog. „folgenorientierten Auslegung“ abzugrenzen: Bei dieser geht es – bei allen Unterschieden verschiedener Ausgestaltungen im Detail[170] – um die Empfehlung an den Rechtsanwender, „bei der Gesetzesauslegung die gesellschaftlichen Folgen der Auslegung zu berücksichtigen und gegebenenfalls die Auslegung an ihren Folgen zu korrigieren“.[171] Betrachtet werden also die Realfolgen staatlichen Handelns.[172]
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Auch eine solche Betrachtung ist dem Strafrecht nicht fremd. Bei Sanktionsentscheidungen werden standardmäßig die – erwünschten oder auch unerwünschten – Auswirkungen einer nicht (vollstreckbar) verhängten, kurzen oder auch langen Freiheitsstrafe berücksichtigt. Und wenn etwa über die Frage einer Organisationszuständigkeit bei einem Fahrlässigkeitsdelikt zu entscheiden ist,[173] sollte natürlich darüber nachgedacht werden, welche organisatorischen Schritte bei wem geleistet werden können und welche Konsequenzen es haben wird, einen bestimmten Personenkreis in diese Organisationsverantwortung einzubeziehen oder ihn aber außen vor zu lassen. Man wird solche Gedanken der teleologischen Auslegung zuschlagen müssen, da es um die Frage geht, ob es Sinn und Zweck der Vorschrift ist, auch solche Folgen zu vermeiden oder nicht. Mit einer strafrahmenorientierten Auslegung hat das Vorgehen aber nichts zu tun: So ist die eingangs erwähnte Frage nach § 263a StGB beim Bankomatenmissbrauch unabhängig davon zu beantworten, ob die Täterin einen lebensuntüchtigen Ehemann hinterlässt, der ohne sie nicht weiß, wie er außerhalb der Öffnungszeiten seiner Hausbank an Bargeld kommt, oder nicht. Allein durch das Bewusstsein der Tatsache, dass mit einer längeren Freiheitsstrafe die Gefahr von negativen Sekundärfolgen tendenziell wachsen dürfte, bekommt die strafrahmenorientierte Auslegung noch keinen empirisch-sozialwissenschaftlichen Bezug. Deshalb sprechen auch Einwände gegen das generelle Konzept der Folgenorientierung, die auf der Problematik der konkreten Folgenabschätzung und -bewertung basieren,[174] nicht auch gegen eine strafrahmenorientierte Auslegung.
3. Strafrahmenorientierung und klassisches Methodenquartett
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Nachdem also festgestellt wurde, dass die „Strafrahmenorientierung“ nur wenig mit der allgemeinen Folgenorientierung zu tun hat, steht nun die Frage im Mittelpunkt, in welchem Verhältnis sie zu den oben unter I. behandelten traditionellen Auslegungsmethoden steht. Dabei ist relativ klar, dass eine Strafrahmenorientierung für die grammatische Auslegung der Verbotstatbestände keine Rolle spielen kann. Zwar dürfte die Angabe der Strafrahmen mit konkreten bzw. durch §§ 38 und 40 Abs. 1 StGB sehr klar konkretisierbaren Zahlenangaben einer der seltenen Fälle sein, in denen bei allen Vorbehalten an der Ergiebigkeit einer rein grammatischen Auslegung[175]