b) Verengung der Verständnismöglichkeiten
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Bedeutungsreduzierend kann der genetische Kontext etwa wirken, wenn sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt, dass die Regelung gerade (nur) für ganz bestimmte Fallgruppen geschaffen wurde, bei denen nach der bisherigen Rechtslage eine unerwünschte Lücke bestand. Für die Auslegung ergibt sich dann nicht nur positiv, dass die Norm auf diese Fallgruppen anwendbar sein sollte, sondern möglicherweise auch negativ, dass andere Fälle, die gar nicht in den thematischen Anwendungsbereich der lückenhaften alten Regelung fielen, auch durch die Neufassung nicht erfasst werden sollen. So wird etwa nach § 263a StGB bestraft, wer „in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs durch unrichtige Gestaltung des Programms, durch Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten, durch unbefugte Verwendung von Daten oder sonst durch unbefugte Einwirkung auf den Ablauf beeinflusst“. Ein zentraler Streitpunkt bei dieser Vorschrift ist nun, wann eine Datenverwendung „unbefugt“ i.S. der 3. Var. erfolgt ist.[71] Teilweise wird hier in einer sog. subjektiven Theorie darauf abgestellt, ob die Datenverwendung dem (erkennbaren) Willen des „Berechtigten“ widerspricht;[72] damit würden aber nicht nur betrugsspezifische, sondern auch untreueähnliche Handlungen erfasst. Nun deuten aber nicht nur die gesetzliche Überschrift „Computerbetrug“ und die systematische Stellung hinter der Betrugsvorschrift des § 263 StGB, sondern auch die Gesetzgebungsgeschichte auf ein engeres Verständnis hin: § 263a StGB sollte nämlich nach dem Willen des Gesetzgebers nicht ein umfassendes „Vermögensdelikt in Fällen mit EDV-Bezug“ sein, sondern gerade die Lücke schließen, die bei der Anwendung des § 263 StGB entstehen kann, weil Computer nicht i.S. des Betrugstatbestandes „getäuscht“ werden bzw. keinem „Irrtum“ unterliegen können.[73] Daher wird überwiegend eine einschränkende Auslegung des Merkmals „unbefugt“ auf Fälle „betrugsnahen“ Verhaltens vorgezogen, d.h. auf Verhaltensweisen, denen ein „Täuschungswert“ zukommen würde, wenn sie nicht gegenüber einem Computer, sondern gegenüber einem Menschen vorgenommen würden.[74]
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Darüber hinaus kann der historische Kontext Bedeutungen ausschließen, wenn sich aus den Materialien ergibt, dass mit einer Regelung in einer bestimmten Frage nicht über den bisherigen Zustand hinaus bzw. vor allem nicht hinter den früheren Stand zurück gegangen werden sollte. Denkbare Bedeutungsvarianten, die einen solchen Rückschritt bedeuten würden, wären danach ausgeschlossen – es sei denn, der Gesetzgeber schafft explizit eine abweichende Regelung. Ein Beispiel für die erstgenannte Fallgruppe lässt sich abermals § 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB entnehmen. Im Zusammenhang mit der Scheinwaffenproblematik hat der Gesetzgeber des 6. StrRG nämlich auch ausgeführt, dass die Einschränkungen durch die „Labello-Rechtsprechung“ unberührt bleiben sollen.[75] Obwohl die Formulierung von § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB zulassen würde, auch die Drohung mit nach dem äußeren Eindruck ungefährlichen Gegenständen zu erfassen, wenn das Opfer über diese Ungefährlichkeit getäuscht wird, und auch wenn die Abgrenzung insoweit schwierig sein mag, hat sich der BGH daher zu Recht gezwungen gefühlt, diese Einschränkung zu übernehmen.[76] Demgegenüber hat – um ein Beispiel aus dem Strafprozessrecht anzuführen – der Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes in § 257c Abs. 4 StPO eine sehr klare Regelung geschaffen, unter welchen (relativ niedrigschwelligen[77]) Voraussetzungen das Gericht sich von einer Verständigung lösen kann und hat diese Lösungsmöglichkeit auch in der Gesetzesbegründung erläutert.[78] Vor diesem Hintergrund mag man einen etwaigen Rückschritt rechtspolitisch bedauern, kann aber bei der Auslegung nicht berücksichtigen, dass vor Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes die Bindungswirkung, welche die Rechtsprechung solchen Verständigungen über den fair-trial-Grundsatz zugemessen hat, wohl als sogar noch weitergehend interpretiert werden konnte.[79]
c) Erweiterung der Verständnismöglichkeiten
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Demgegenüber wirken historisch-genetische Kontexte bedeutungserweiternd, wenn nach grammatischer Auslegung und insbesondere anderen Kontexten die Anwendbarkeit einer Norm auf einen bestimmten Sachverhalt eher nicht gegeben erscheint, sich aber aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt, dass dieser Sachverhalt durchaus erfasst sein sollte. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob der gesetzgeberische Wille im Gesetz nicht doch so weit Ausdruck gefunden hat, dass die Bedenken gegen die Anwendung der Norm überwunden werden können, bzw. ob die Vorschrift nicht wenigstens auf so viele Fälle angewendet werden sollte, wie mit Blick auf die anderen Kontexte noch vertretbar ist. Dieses Zusammenspiel lässt sich anhand einer Entscheidung des BGH zur Auslegung des § 177 StGB i.d.F. durch das 33. StrÄndG verdeutlichen: Danach lag ein besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung (Vergewaltigung) u.a. in Fällen vor, in denen „der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung)“.[80] Der 3. Strafsenat hatte nun zu entscheiden, ob der Tatbestand dieses Regelbeispiels in einem Fall erfüllt war, in dem der Täter das Opfer gewaltsam zur Ausübung des Oralverkehrs zwang, indem er es am Kopf packte und mit beiden Händen zu seinem Geschlechtsteil zog.[81] Der Senat verneinte diese Frage mit grammatischen und systematischen Argumenten, weil im Falle des erzwungenen Oralverkehrs nicht der Täter am Opfer, sondern das Opfer (gezwungenermaßen) am Täter sexuelle Handlungen vornehme. Diese Unterscheidung ergebe sich aus anderen Vorschriften über den strafrechtlichen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, die allesamt sowohl die Handlungen des Täters am Opfer als auch diejenigen des Opfers am Täter explizit erwähnten.
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Historisch-genetische Kontexte allerdings deuten in eine andere Richtung:[82] Im Gesetzesentwurf zum 33. StrÄndG wurde offenbar auch der vom Täter erzwungene Oralverkehr durch das Opfer als erfasst betrachtet: Dies ergibt sich nicht nur aus dem nicht näher differenzierenden Sprachgebrauch, sondern auch aus der Erläuterung als „Eindringen des Geschlechtsgliedes (. . .) als orale oder anale Penetration“,[83] welche als Bild für den vom Täter am Opfer durchgeführten Oralverkehr eher schief ist bzw. zumindest nicht die statistisch bedeutsameren Fälle erfassen dürfte. Auch in den – für den bereits abgeschlossenen Gesetzgebungsvorgang freilich weniger ausschlaggebenden – Materialien der kurze Zeit später erfolgenden Ergänzung um eben jenes „oder an sich von ihm vornehmen lässt“, maß der Rechtsausschuss der Ergänzung nur klarstellenden Charakter bei.[84] Um den in den Materialien zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen möglichst zu berücksichtigen, ohne die normtextnäheren systematischen und grammatischen Kontexte unzulässig zu überspielen, sprechen daher gute Gründe dafür, wenigstens solche Handlungen noch als Vornahme „am Opfer“ zu erfassen, in denen keine (wenngleich auf Zwang beruhende) „passive Inanspruchnahme“ des Opfers vorliegt, sondern die Aktivität zumindest auch beim Täter liegt.[85] Im konkret zu entscheidenden Fall nun hatte sich der Täter nicht etwa weitgehend passiv verhalten und nur durch die Kraft einer Drohung das Opfer zur Durchführung des Oralverkehrs genötigt, sondern vielmehr dessen „Kopf in beide Hände“ genommen und „zu seinem Geschlechtsteil“ gezogen. Jedenfalls diese Vorgehensweise kann selbst unter Berücksichtigung der systematischen Einwände als sexuelle Handlung am Opfer gesehen werden.
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