II. Blankettverweisungen und intertemporales Strafanwendungsrecht
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Die Einschätzung, ob ein bestimmtes Verhalten als sozialschädlich und strafwürdig anzusehen ist, unterliegt stetem gesellschaftlichem Wandel. Grundsätzlich gilt für die Beurteilung der Strafbarkeit gem. Art. 103 Abs. 2 GG und § 1, 2 Abs. 1 StGB das zur Tatzeit geltende Recht. Tätergünstige Rechtsänderungen sind jedoch aufgrund des Milderungsgebots in § 2 Abs. 3 StGB bis zur vollständigen Rechtskraft des Urteils zu berücksichtigen, es sei denn, es liegt ein Zeitgesetz i.S.d. § 2 Abs. 4 StGB vor. Geläuterte Moralvorstellungen können zur Abschaffung ganzer Tatbestände führen (ausführlich zum zeitlichen Geltungsbereich von Strafvorschriften → AT Bd. 2: Gerhard Dannecker, Zeitlicher Geltungsbereich, § 30). Bessere Erkenntnisse über gesellschaftliche Zusammenhänge und die Wirkweise einzelner gesetzlicher Vorschriften erfordern jedoch manches Mal nur Änderungen im Detail[94]. Diese können bei Blankettnormen besonders flexibel durch bloße Änderung der Ausfüllungsnormen herbeigeführt werden. Das oben (Rn. 6) beschriebene Zusammenlesen von Sanktions- und Ausfüllungsnorm führt dann zu einer Anwendung des strafrechtlichen Milderungsgebots auf den Gesamttatbestand. Eine Ahndung von Altfällen könnte schließlich nur noch mit der illoyalen Gesinnung desjenigen, der sich zum Gesetzesverstoß entschließt, begründet werden. Insofern gilt jedoch, dass auch blankettausfüllende Normen keine „despotischen Befehle“ darstellen, die um ihrer selbst Willen aufgestellt und sanktioniert würden. So hatte etwa beim Bankrott gem. § 283 StGB und der Insolvenzverschleppung gem. § 15a InsO die Rückkehr zum modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff in § 19 Abs. 2 S. 1 InsO[95] zur Folge, dass auch für Altfälle die Strafbarkeit entfällt, wenn die Fortführung des Unternehmens im Tatzeitpunkt trotz rechnerischer Überschuldung überwiegend wahrscheinlich war[96]. Der gesetzgeberischen Entscheidung ist eine politische Neubewertung vorangegangen, dass ein gesellschaftliches Interesse am Fortbestand eines Unternehmens auch dann besteht, wenn diesen durch Bürgschaften und Garantien (die nichts an der rechnerischen Überschuldung ändern) aus der Krise geholfen werden kann. Nach den gleichen Grundsätzen kam das Milderungsgebot in Bezug auf § 241a HGB n.F.[97] zur Anwendung, der die Buchführungs- und Bilanzierungspflichten von der Vollkaufmannseigenschaft abgekoppelt hat. Wenn für kleinere Einzelkaufleute solche nicht mehr für erforderlich gehalten werden, entfällt auch die Strafwürdigkeit eines vorangegangenen Verstoßes gegen § 283 Abs. 1 Nrn. 5–7 StGB bzw. § 283b Abs. 1 Nrn. 1–3 StGB. Zu achten ist aber darauf, dass bei rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen andere Grundsätze gelten, was auch für die in diesem Zusammenhang oft bemühte Steuerhinterziehung gem. § 370 AO gilt (dazu Rn. 57 a.E.).
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Ausnahmen einer Anwendung der lex mitior können sonst nur bei blankettausfüllenden Zeitgesetzen gem. § 2 Abs. 4 StGB gemacht werden. Besonders praxisrelevant ist dies bei Embargoverstößen[98], die durch §§ 17 Abs. 1 und 18 Abs. 1 AWG unter Strafe gestellt sind. Sanktionsmaßnahmen gelten immer nur für temporär begrenzte Ausnahmesituationen[99]. Die spätere Aufhebung ist kein Zeichen für eine andere kriminalpolitische Bewertung des Sachverhalts, sondern bestenfalls dafür, dass ein Embargo seinen Zweck erfüllt hat und überflüssig geworden ist. Gerade weil es absehbar ist, dass Handelssperren immer wieder aufgehoben werden, liefe man bei Anwendung des Milderungsgebots Gefahr, dass die Embargotatbestände ihre Autorität und Abschreckungswirkung verlieren[100].
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Manches Mal kann das Milderungsgebot allerdings zu unbeabsichtigten Folgen führen, wenn durch Abstimmungsfehler zwischen Gesetz- und Verordnungsgeber kurzzeitige Strafbarkeitslücken entstehen (oben Rn. 10). In diesem Fall schließt § 2 Abs. 3 StGB auch die Bestrafung von Altfällen aus, selbst wenn eine Fehlverweisung wenige Tage oder Wochen später korrigiert wird. Straflose Zwischenrechtslagen sind schon rein vom Wortlaut der Vorschrift her zu berücksichtigen, immerhin wurde die Norm „vor der Entscheidung geändert“ und das verunglückte Zwischengesetz ist das „mildeste“[101]. Entsprechende Konstellationen traten bisher vor allem bei der Änderung von europäischen Rechtsakten auf (Beispiele oben Rn. 17). Auch § 2 Abs. 4 StGB kann hier nicht zur Anwendung kommen; er gilt seinem eindeutigen Wortlaut nach nur dann, wenn das Zeitgesetz das schärfere ist und die Tat „während seiner Geltung“ begangen wurde[102]. Dem Gesetzgeber steht es allerdings frei, im Einzelfall nachträglich eine von § 2 Abs. 3 StGB abweichende Regelung zu treffen, so wie es etwa in § 69 Abs. 2 S. 2 BNatSchG a.F.[103] oder § 8 Abs. 3 FahrpersonalG[104], geschehen ist. Art. 49 Abs. 1 S. 3 der EU-GrCH steht dem aufgrund des Schrankenvorbehalts in Art. 52 Abs. 1 EU-GrCh nicht entgegen.
III. Blankettverweisungen und Irrtumsproblematik
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Die wohl umstrittenste Frage bei Blankettverweisungen kreist um die Abgrenzung des Tatbestandsirrtums gem. § 16 Abs. 1 StGB vom Verbotsirrtums gem. § 17 StGB (allgemein zur Irrtumslehre → AT Bd. 2: Walter, § 46). Im Wesentlichen geht es darum, ob nur hinsichtlich der einzelnen Voraussetzungen der Ausfüllungsnorm ein Tatbestandsirrtum möglich ist oder ob außerdem auch ihre Existenz und ihr Inhalt vom Vorsatz umfasst sein müssen.
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Eine vielfach im Schrifttum vertretene Ansicht misst der äußeren Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm nicht nur gesetzestechnische Bedeutung zu. Ein „Zusammenlesen“ von Straftatbestand und Bezugsnorm durch den Rechtsanwender lasse den Gesamttatbestand zunehmend deskriptiver werden und verfälsche ihn jedenfalls in Bezug auf die subjektive Tatseite, so etwa Tiedemann[105]. Deshalb müsse der gesetzgeberische Soll-Maßstab dem Täter grundsätzlich[106] bekannt sein, um von einem vorsätzlichen Verhalten ausgehen zu können. Bei Tatbeständen außerhalb des Kernstrafrechtes gehe es schließlich meist nur um die Versäumnis von Nebenpflichten aus Anlass sozialadäquater Tätigkeiten, die für sich gesehen keinen Unrechtsimpuls vermitteln[107]. Auch nach Puppe stehe der Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht, den man einem Täter hier machen könne, dem Fahrlässigkeitsvorwurf näher als dem Vorsatzvorwurf gegenüber einem Täter, der sich gegen eine elementare allgemeingültige Verhaltensnorm vergeht[108]. Faktisch handelt es sich dabei um eine partielle Anwendung der Vorsatztheorie[109]. All diese Ansätze laufen darauf hinaus, dass bei Blanketttatbeständen in erster Linie an der illoyalen Gesinnung desjenigen, der sich bewusst zum Normbruch entschließt, Anstoß genommen wird.
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Die konsequente Fortsetzung der zum Gesetzlichkeitsprinzip angewandten Grundsätze spricht jedoch dafür, auf den aus Blankett- und Ausfüllungsnorm gebildeten Gesamttatbestand[110] die allgemeinen Irrtumsregeln anzuwenden. Nur der Irrtum über einen einzelnen Tatumstand ist Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 Abs. 1 StGB, der Irrtum über die Existenz oder die Reichweite der blankettausfüllenden Norm dagegen Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB[111]. Ein umgekehrter Irrtum führt zum Wahndelikt[112]. Jede Form der restriktiven Anwendung der Schuldtheorie muss sich nicht nur an den gesetzlichen Vorgaben (ggf. i.V.m. Art. 1 Abs. 1 EGStGB, § 369 Abs. 2 AO) messen lassen, sie bedarf auch