1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 4 Anknüpfung des Strafrechts an außerstrafrechtliche Normen › B. Echte Blankettverweisungen
I. Erscheinungsformen und Gesetzlichkeitsprinzip
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Soweit ein Tatbestand Blanketteigenschaft i.e.S. aufweist, ist der Strafgesetzgeber seiner Aufgabe gem. Art. 103 Abs. 2 GG zur Umschreibung des Tatbestandes nicht vollständig nachgekommen[13]. Die unvollkommene Darstellung wird aber durch andere nichtstrafrechtliche Normen vervollständigt[14]. Diese können sich im gleichen oder in einem anderen parlamentarischen Gesetz (Rn. 7 ff.) befinden, aber auch in einer Rechtsverordnung bzw. Satzung (Rn. 12 ff.) oder einer europäischen Verordnung (Rn. 17 ff.). Die Inhalte von Straf- und Ausfüllungsnorm sind in allen Fällen zusammenzulesen und bilden einen einheitlichen Tatbestand[15]. Die Wurzeln der Regelungstechnik sollen in der französischen Revolution liegen[16]; der Begriff des Blankettstrafgesetzes stammt wohl von Binding[17].
1. Blankettverweisungen auf inländische parlamentarische Gesetze
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Weitestgehend unproblematisch ist diese Gesetzgebungstechnik, wenn Sanktions- und Ausfüllungsnorm vom selben Normgeber stammen[18]. Denkbar sind statische und dynamische Verweise, wobei sich für die erste Variante bei reinen Inlandsblanketten wohl nur noch historische Beispiele finden[19]. Recht typisch für das Nebenstrafrecht ist es, dass Strafdrohungen für die Verletzung spezialgesetzlicher Pflichten am Ende des jeweiligen Gesetzes als Schlussvorschriften übersichtlich zusammengefasst werden, so z.B. bei den §§ 95 ff. AufenthG oder den §§ 399 ff. AktG. Bei der Insolvenzverschleppung gem. § 15a InsO finden sich die außerstrafrechtliche Pflicht (Abs. 1) und das Strafblankett (Abs. 4) sogar in unterschiedlichen Absätzen der gleichen Vorschrift. Solche Binnenverweisungen tun der Gesetzesklarheit keinen Abbruch, sie ist ihr in aller Regel sogar eher dienlich[20]. Unglücklich sind sie nur dann, wenn sich die Verweisungsketten gleich über drei oder vier Normen hinweg erstrecken. Genauso möglich ist die Bezugnahme auf andere Gesetzeswerke: So verweisen § 283 Abs. 1 Nr. 5–7 StGB (Bankrott) und § 283b Abs. 1 Nr. 1–3 StGB (Verletzung der Buchführungspflicht) auf die handelsrechtlichen Buchführungspflichten, gemeint sind die §§ 238 ff. HGB; diese nehmen den „Charakter einer Strafnorm“ an[21]. Das verwaltungsrechtsakzessorische Umweltstrafrecht ist ebenfalls im Strafgesetzbuch, in den §§ 324 ff. StGB geregelt: Vom Standort her sollte es als Kernstrafrecht eine Aufwertung erfahren[22]. Dennoch zeichnet es sich weiterhin durch eine enge Verzahnung mit umweltrechtlichen Vorschriften aus[23], wenn die Tatbestände wiederholt auf das BImSchG und andere Gesetze verweisen. In all den Fällen müssen Sanktions- und Ausfüllungsnorm „summativ“[24] den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen. Wie sich die Gewichte der Tatbestandsbeschreibung im Einzelnen auf beide Normen verteilen, steht zur Disposition des Gesetzgebers[25]. Teilweise befindet sich die Handlungsbeschreibung, wie bei § 15a Abs. 4 InsO, sogar komplett außerhalb der eigentlichen Sanktionsnorm, in anderen Fällen, wie in §§ 283, 283b StGB wird dagegen nur auf einzelne Merkmale verwiesen.
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Parlamentarisch gesetztes Landesrecht kann gleichermaßen bundesrechtliche Strafvorschriften ergänzen. Dass der den unerlaubten Umgang mit gefährlichen Hunden betreffende § 143 Abs. 1 StGB i.d.F. vom 12. April 2001[26] im Jahre 2004 durch BVerfGE 110, 141 für verfassungswidrig erklärt wurde, steht dem nicht entgegen. Insoweit spielte der bis zur Föderalismusreform[27] gültige Art. 72 Abs. 2 GG a.F. eine entscheidende Rolle, der die Bundeskompetenz in allen
2. Eindeutigkeit der Verknüpfung und Umfang der Akzessorietät
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a) Die Verknüpfung der Blankett‑ mit der Ausfüllungsnorm muss als solche ebenfalls i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG ausreichend bestimmt sein. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Ausfüllungsvorschriften durch das Blankettmerkmal immer konkret mit Paragraph und Absatz oder gar mit Fundstelle im offiziellen Publikationsorgan genannt werden müssten[31]. So ist auch der abstrakte Verweis in §§ 283, 283b StGB auf „handelsrechtliche Buchführungspflichten“ völlig ausreichend. Zu unbestimmt ist eine Verknüpfung nur dann, wenn sich nicht ermitteln lässt, welche gesetzlichen Vorschriften gemeint sein könnten. Dies käme etwa dann in Betracht, wenn eine Strafvorschrift schlicht den Verstoß gegen „gesetzliche Pflichten als Arbeitgeber“ pönalisieren würde.
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Die exakte Nennung der Ausfüllungsnorm birgt sogar eher die Gefahr von Fehlverweisungen. Diese kommen immer wieder vor und lassen sich aufgrund des strafrechtlichen Analogieverbots auch nicht in sinnvolle Verweisungen umdeuten. So führten gesetzgeberische Versäumnisse in § 406 Abs. 1 SGB III i.d.F. vom 23. Dezember 2002[32] sowie bei den §§ 10, 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG i.d.F. vom 23. Juli 2004[33] zu ungewollten Strafbarkeitslücken bei der illegalen Beschäftigung von Ausländern[34]. Erst recht wenn unterschiedliche Normgeber beteiligt sind, können solche Abstimmungsfehler entstehen: Zahlreiche Beispiele finden sich bei Europarechtsblanketten, etwa zu Rechtsakten über die Weinherstellung[35], den Artenschutz[36] oder mehrfach im Zusammenhang mit den §§ 8, 8a FahrpersonalG und §§ 22 ff. FahrpersonalV, welche in den Jahren 1986 und 2007, nachdem jeweils eine neue europäische Verordnung über Lenkzeiten für Lastkraftwagen ersetzt worden war, nicht rechtzeitig angepasst wurden[37]. Ungewollte Strafbarkeitslücken entstehen dann nicht nur für Taten in den einschlägigen Zeiträumen, sondern diese entfalten gem. § 2 Abs. 3 StGB sogar Rückwirkung (unten Rn. 32).
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b) Weitere entscheidende Fragen stellen sich bei der Normauslegung,