1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › A. Strafrecht als Indikator der Freiheitlichkeit einer Rechtskultur
A. Strafrecht als Indikator der Freiheitlichkeit
einer Rechtskultur
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Der Zustand des Strafrechts sagt in aller Regel mehr über die Rechtskultur eines Landes aus als sein Verfassungsrecht, sein Verwaltungsrecht oder sein Zivilrecht.[1] Strafrecht ist das schärfste Instrument, das der Staat zur Erreichung seiner jeweiligen Ziele einsetzen kann. Mit seiner Hilfe vermag staatliche Gewalt tief in die Rechtssphäre der ihr Unterworfenen einzugreifen. Im Strafrecht drücken sich daher in besonderem Maße die in einem Land vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Werte und Normen aus. Das gilt nicht nur im Hinblick darauf, was strafrechtlich ver- oder geboten ist, sondern auch mit Blick auf die erlaubte Zugriffsintensität des Strafrechts und die strafprozessualen Mittel, die zur Regulierung strafrechtlicher Eingriffe zur Verfügung stehen.
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Strafrecht regelt im Detail die Voraussetzungen der Verhängung staatlich organisierter Strafe. Im aufgeklärten Strafrechtsdenken ist es lediglich die Ultima Ratio des Rechtsgüterschutzes, nicht prima oder gar sola ratio.[2] Man hat das Strafrecht daher als „die letzte Verteidigungslinie des Rechts überhaupt“ bezeichnet.[3] Daneben schützt das Strafrecht aber auch den Straftäter und darüber hinaus die unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger vor unberechtigter Verdächtigung und Strafverfolgung, indem es die Voraussetzungen von Strafverfolgung und Strafbarkeit explizit macht und im Detail festlegt. Zu Recht nannte daher von Liszt das Strafrecht die „Magna Charta des Verbrechers“ und die „unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“.[4]
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Von Liszt war es auch, der das Konzept einer Strafrechtsrechtswissenschaft prägte, die über die Dogmatik des materiellen Strafrechts hinaus auch das Strafprozessrecht, vor allem aber die Kriminalsoziologie, die Kriminalanthropologie, die Kriminalpsychologie und die Kriminalstatistik als empirische Disziplinen umfassen sollte.[5] Wenn Strafrecht und Strafrechtsanwendung einen Beitrag zur Kriminalitätsprävention leisten sollen, so bedarf es einer realwissenschaftlich aufgeklärten Strafrechtsdogmatik. Die damit angedeutete Idee der „gesamten Strafrechtswissenschaft“ hat bis heute nichts von ihrer Attraktivität verloren. Ihre Wurzeln reichen in das Strafrechtsdenken der Aufklärung zurück.[6]
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Strafrecht entsteht meist als Reaktion auf Unrechtserfahrungen, wobei das, was jeweils als „Unrecht“ erlebt wird, sowohl historisch als auch kulturell divergiert. In diachroner wie in synchroner Perspektive finden wir daher eine breite Palette unterschiedlicher Ausprägungen von Strafrecht. Die Bezugnahme auf Unrechtserfahrungen macht aber bereits deutlich, dass seine Entstehung und Veränderung von vorgängigen normativen Einstellungen abhängig ist. Die Untersuchung dieser normativen Einstellungen, ihrer Genese, Ausdifferenzierung und Bedeutung für das Recht ist eine empirische Aufgabe, die hier nicht im Einzelnen geleistet werden kann.[7] Um die Einbettung des (Straf-)Rechts in die normativ geprägte soziale Ordnung und deren für die Praxis des Rechtslebens überaus relevante Rückwirkung auf das Recht besser zu verstehen, sind dennoch einige klarstellende Ausführungen angebracht.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › B. Soziale Ordnung, soziale Normen und das Recht
B. Soziale Ordnung, soziale Normen und das Recht
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Eingangs wurde bereits angedeutet, dass Strafrecht, wie überhaupt das Recht, nicht die einzige Form einer sozialen Normierung darstellt, die in menschlichen Gesellschaften[8] anzutreffen ist. Menschen sind, um leben zu können, von der Kooperation mit anderen abhängig; der Mensch ist, wie schon Aristoteles lehrte, von Natur aus ein soziales Lebewesen.[9] Soziales Handeln von Menschen ist nicht bloß auf andere bezogen, sondern wird durch das Verhalten anderer auch beeinflusst.[10] Menschen können „nicht zueinander kommen …, ohne einen Prozess der Formung dieses ‚Zueinander‘ auszulösen“.[11] Der Ursprung sozialer Ordnung liegt mithin in der menschlichen Natur. Allerdings sind unsere Verhaltensmuster nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern kulturellem Wandel unterworfen, auch wenn Menschen offenbar zu allen Zeiten die Neigung gezeigt haben, ihre eigene soziale Ordnung als sakrosankt, allen anderen Ordnungen überlegen und änderungsfest anzusehen.[12]
I. Zur Genese sozialer Normen
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Die Entstehung sozialer Normen, also die Genese von „Normativität“, ist eines der großen Themen der Soziologie und Sozialphilosophie.[13] Soziale Normen, so die heute wohl vorherrschende Annahme,[14] entwickeln sich aus Verhaltensregularitäten und ihnen korrespondierenden Verhaltenserwartungen, die schließlich in das Gefühl eines „Sollens“ münden: Aus wiederholt durchgeführten Handlungen ergeben sich Verhaltensregelmäßigkeiten, die zu Gewohnheiten erstarken. Andere Menschen richten ihre eigenen Handlungen an den Verhaltensregelmäßigkeiten ihres Gegenübers aus und bilden, auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen, dazu passende Verhaltensformen. Werden die Erwartungen der Akteure hinsichtlich der Gleichförmigkeit des Verhaltens ihres Gegenübers enttäuscht, so reagieren sie mit negativen Signalen, die beim Primärakteur wiederum ein Gefühl der Verpflichtung zur Fortführung seines regulären Verhaltens erzeugen. Die Verhaltenserwartungen werden in der jeweiligen sozialen Einheit[15] verallgemeinert. Eine soziale Norm (Verhaltensnorm[16]) ist also eine „sanktionsbewehrte Handlungs- und Einstellungserwartung von überindividueller Gültigkeit“.[17] Auf diese Weise entsteht eine durch Verhaltensnormen konstituierte, auf Konvention beruhende soziale Ordnung.[18]
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Man sollte freilich nicht übersehen, dass soziale Normen auch auf andere Weise entstehen und vor allem übertragen werden. Soziale Normen können durch prägende Persönlichkeiten „gesetzt“ werden, etwa durch Religionsstifter[19] oder politische Führer.[20] Hinzu tritt in der Gegenwart die Entwicklung, evtl. Ausarbeitung und Empfehlung von Verhaltensnormen durch besonders engagierte „Moralunternehmer“[21], z.B. im Bereich des Umwelt- und Gesundheitsschutzes (Tabuisierung des Rauchens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts). Anschauliche Beispiele für die Herausbildung sozialer Normen finden sich häufig im Bereich neuer Technologien (Entwicklung einer „Netiquette“ im Email-Verkehr, Formen der Handynutzung in der Öffentlichkeit, usw.).
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Soziale Normierungen sind gelegentlich mit biologischen Gegebenheiten verknüpft; Popitz nennt in diesem Zusammenhang den „Unterschied der Geschlechter, Geburt, Kindheit, Altern und Tod.“[22] Die biologischen Anknüpfungspunkte werden jedoch von den unterschiedlichen Kulturen in ganz verschiedener Weise normativ überformt.[23] Als (einziges) Beispiel für eine universal gültige Norm wird oft das Inzest-Tabu genannt.[24]
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Von der Frage nach der Genese sozialer Normen und der Anknüpfung dieser Normen an biologische Unterschiede zu unterscheiden ist das Problem, ob bzw. inwieweit soziale Normen inhaltlich durch die menschliche Biologie vorgeprägt sind. Da der Mensch mit seinen Anlagen, Dispositionen und Wünschen ein Ergebnis der Evolution darstellt, ist davon auszugehen, dass auch diejenigen Faktoren, die die Herausbildung