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Der Gesetzgeber ist dagegen im Anschluss, bei Verabschiedung der Insolvenzordnung von dem durch die insolvenzrechtliche Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, Überschuldung sei im Falle einer positiven Fortführungsprognose ausgeschlossen, bewusst abgewichen. In der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 19.4.1994 ist hierzu ausgeführt: „Der Ausschuss weicht damit entschieden von der Auffassung ab, die in der Literatur vordringt und der sich kürzlich auch der Bundesgerichtshof angeschlossen hat (BGHZ 119, 201, 214). Wenn eine positive Prognose stets zu einer Verneinung der Überschuldung führen würde, könnte eine Gesellschaft trotz fehlender persönlicher Haftung weiter wirtschaften, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zur Verfügung steht. Dies würde sich erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken, wenn sich die Prognose – wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – als falsch erweist“.[166] Insbesondere aus Gründen des Gläubigerschutzes hat der Gesetzgeber stattdessen eine „einfach-zweistufige“ Prüfung der Überschuldung in § 19 Abs. 2 InsO a.F.[167] übernommen. Danach schließt eine positive Fortführungsprognose diesen Insolvenzeröffnungsgrund nicht per se aus. Sie wirkt aber auf die im ersten Schritt vorgenommene Prüfung bilanzieller Überschuldung in der Weise zurück, dass die Bewertung der Aktiva nicht mehr zu Liquidationswerten, sondern zu Fortführungswerten zu erfolgen hat.[168] Der „going-concern-Wertansatz“ ist regelmäßig höher als die Taxierung der Vermögensgegenstände zu Zerschlagungswerten, die im Rahmen des Insolvenzverfahrens zu erzielen wären.[169] In § 19 Abs. 2 S. 2 InsO a.F. fand sich die Regelung: „Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist“. Bei Ansatz der (höheren) Fortführungswerte konnte daher auch nach diesem Modell Überschuldung im Einzelfall entfallen.[170] Allerdings stehen beide Prüfungselemente hier nicht gleichwertig nebeneinander.[171]
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Der Gesetzgeber hat unter dem Eindruck der „Finanzkrise“ im Herbst 2008 trotz der Bedenken des Rechtsausschusses vor Erlass der Insolvenzordnung auf die „zweistufig-modifizierte“ Feststellung von Überschuldung zunächst als Interimslösung zurückgegriffen.[172] Folge der Finanzkrise seien teilweise erhebliche Wertverluste bei Aktien und Immobilien gewesen, so dass bei Unternehmen, die besonders massiv betroffen seien, diese Wertverluste bilanziell teilweise nicht durch Aktiva ausgeglichen werden könnten. Dies gelte selbst in Fällen, in denen die Aktiva bereits nach geltendem Recht mit „going-concern-Werten“ angesetzt werden dürfen. In der Begründung des Gesetzentwurfs[173] ist ausgeführt: „Der Gesetzentwurf will das ökonomisch völlig unbefriedigende Ergebnis vermeiden, dass auch Unternehmen, bei denen die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie weiter erfolgreich am Markt operieren können, zwingend ein Insolvenzverfahren zu durchlaufen haben. Deshalb wird mit dem neuen § 19 Abs. 2 InsO wieder an den sog. zweistufigen modifizierten Überschuldungsbegriff angeknüpft, wie er vom Bundesgerichtshof bis zum Inkrafttreten der Insolvenzordnung vertreten wurde (vgl. BGHZ 119, 201, 214). Dieser Überschuldungsbegriff hatte den Vorteil, dass das prognostische Element (Fortführungsprognose) und das exekutorische Element (Bewertung des Schuldnervermögens nach Liquidationswerten) gleichwertig nebeneinander standen […]. Künftig wird es deshalb wieder so sein, dass eine Überschuldung nicht gegeben ist, wenn nach überwiegender Wahrscheinlichkeit die Finanzkraft des Unternehmens mittelfristig zur Fortführung ausreicht.“
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Trotz dieser spezifischen Zielrichtung hat der Gesetzgeber auf eine weitergehende, etwa branchenbezogene, Beschränkung des Adressatenkreises verzichtet.[174] Die Regelung gilt damit für sämtliche Gesellschaften, die vom Anwendungsbereich des § 19 Abs. 1 und 3 InsO umfasst sind, auch für kleine und mittlere Unternehmen.[175] Die ursprüngliche Befristung der Gesetzesänderung war erst Folge der anschließenden parlamentarischen Beratung und wurde zunächst vorübergehend bis zum 31.12.2013 ausgedehnt. Die temporäre Beschränkung erfolgte maßgeblich aus den Erwägungen heraus, die bereits bei Einführung der Insolvenzordnung zur Aufnahme der einfachen (zweistufigen) Überschuldungsprüfung in § 19 Abs. 2 InsO a.F. veranlasst hatten, namentlich, im Interesse der Schadensminderung (Gläubigerschutz), der Gläubigergleichbehandlung und um Sanierungschancen zu verbessern. Die Rückkehr zum alten, im Allgemeinen unerwünschten Rechtszustand, sollte aus diesen Gründen nur vorübergehend erfolgen.[176] Der Gesetzgeber hat die Befristung zuletzt allerdings aufgehoben,[177] so dass die aktuelle Rechtslage bis auf Weiteres unbefristet gilt.
Teil 2 Bankgeschäft und Insolvenz – zivil- und insolvenzrechtliche Grundlagen, wirtschaftliche Zusammenhänge › A › III. Zusammenhang zwischen Kreditgeschäft und Insolvenz
1. Kreditgeschäft der Banken
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Der Kredit ist wesentlicher Bestandteil der Finanzierungsleistungen, die von Kreditinstituten angeboten werden.[178] Das Kreditgeschäft wird volks- und einzelwirtschaftlich als die bedeutendste Aufgabe der Kreditwirtschaft bezeichnet.[179] Es steht im Mittelpunkt des Kreditwesens und der unternehmerischen Tätigkeit der Banken.[180] Die Kreditabteilung bildet dementsprechend das „Herzstück“ einer Universalbank.[181] Die wirtschaftliche Bedeutung des Kredits liegt in der zeitweiligen Überlassung von Liquidität, die Unternehmen Produktion und Investition ermöglicht.[182] Das Kreditgeschäft ist durch das Bestreben der Banken gekennzeichnet, das unternehmerische Risiko, mit einer Darlehensrückzahlung „auszufallen“, einzugrenzen und zu beherrschen. Sofern sich derartige Risiken in großem Ausmaß oder in „gehäufter“ Weise realisieren, so dass einzelne Kreditinstitute ihrerseits die zur Gewährleistung des Einlagengeschäfts erforderliche Liquidität verlieren, besteht die Gefahr, dass in Folge eines Vertrauensverlustes seitens der Kapitalanleger in die Kreditwirtschaft insgesamt auch unbeteiligte, wirtschaftlich „gesunde“ Kreditinstitute betroffen werden. Dieser Zusammenhang wird als eine der Kreditwirtschaft eigentümliche besondere „Vertrauensempfindlichkeit“ charakterisiert.[183] Derartige „Störungen“ innerhalb des Kreditwesens sind darüber hinaus geeignet, schweren volkswirtschaftlichen Schaden zu verursachen, „da alle wesentlichen Zweige der Volkswirtschaft auf das Kreditgewerbe angewiesen sind“.[184] Der Gesetzgeber verfolgt aus diesem Grund durch umfangreiche öffentlich-rechtliche Restriktionen, insbesondere durch Vorsorgeregelungen[185] und Offenlegungspflichten zur Prüfung der Bonität eines Kreditnehmers[186] nach dem KWG sowie durch Festlegung von Mindestanforderungen an das Risikomanagement von Banken,[187] die neben allgemeinen Regeln für die Risikosteuerung und Risikoüberwachung auch Vorgaben für die Behandlung von „Problemkrediten“ enthalten,[188] das Ziel, diesen erheblichen gesamtökonomischen Risiken entgegenzuwirken.
2. Zivilrechtliche Grundlagen
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Der Terminus „Kredit“ beschreibt einen wirtschaftlichen Sachverhalt, der rechtlich auf vielfältige Weise verwirklicht werden kann.[189] Als geeignete Kriterien zur Unterscheidung verschiedener Kreditformen werden etwa die Person des Kreditgebers bzw. des Kreditnehmers,[190] die Laufzeit oder Kündigungsfrist[191] sowie die Besicherung und Dokumentationsform angeführt,[192] ebenso eine mögliche Zweckgebundenheit des Darlehens.[193] Normativ ist das Kreditgeschäft vor allem durch das Recht