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Mittlerweile sind auch für das Bauordnungsrecht europarechtliche Vorgaben von Bedeutung, wobei es sich lediglich um punktuelle Einwirkungen handelt[76]. Umsetzungsbedarf ergab sich bisher vor allem im Hinblick auf zwei Rechtsakte: Zunächst ist die Bauproduktenverordnung[77] zu nennen, die 2013 die vormals geltende Bauproduktenrichtlinie abgelöst hat. Sie dient der Harmonisierung des europäischen Binnenmarkts für Bauprodukte (im Einzelnen siehe Rn. 108). Ferner ist die Dienstleistungsrichtlinie[78] relevant. Ihr Ziel ist es, einen Rechtsrahmen zu schaffen, der den freien Verkehr von Dienstleistungen im Binnenmarkt sowie die unbeschränkte Niederlassungsfreiheit weitgehend ermöglicht. Änderungen ergaben sich im Bauordnungsrecht zunächst für die Bauvorlageberechtigung[79] von Bauingenieuren[80]. Die Dienstleistungsrichtlinie wirkt sich auch auf die Berechtigung zur Prüfung und Bestätigung sog. bautechnischer Nachweise aus. Diese Tätigkeit ist nach den jeweiligen Landesverordnungen[81] Prüfingenieuren oder Prüfsachverständigen zugewiesen[82]. Für Prüfingenieure ist indes umstritten, ob sie gem. Art. 2 Abs. 2 lit. i der Dienstleistungsrichtlinie als „mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbundene Leistungen“ vom Regelungsgehalt der Richtlinie ausgenommen sind[83].
1. Gefahrenabwehr
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Das Bauordnungsrecht dient in erster Linie der Gefahrenabwehr. Das kommt gleich zu Beginn der Landesbauordnungen zum Ausdruck, wenn diese fordern, dass Anlagen so zu errichten und zu ändern (u.ä.m.) sind, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit, nicht gefährdet werden[84]. Konkretisiert werden die Anforderungen in den sich anschließenden Vorschriften der Bauordnungen, und zwar gestuft nach allgemeineren[85] und näher ausbuchstabierten[86] Anforderungen, die beispielsweise an Standsicherheit und Brandschutz der baulichen Anlage gestellt werden. Schließlich ermächtigt die sog. bauordnungsrechtliche Befugnisgeneralklausel[87] die Bauaufsichtsbehörden, bei den verschiedenen baulichen Vorgängen über die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu wachen[88].
2. Schutz vor Verunstaltung
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Weit über die Funktion der Gefahrenabwehr hinaus greift der Schutz vor Verunstaltungen, den alle Landesbauordnungen kennen[89]. Unterschieden werden kann dabei zwischen den Verunstaltungsverboten[90] sowie den Ermächtigungen der Landesbauordnungen an die Gemeinden, sog. Gestaltungssatzungen zu erlassen, in denen bestimmte gestalterische Vorstellungen positiv festgelegt werden können[91]. Tatsächlich waren die Verunstaltungsverbote schon dem preußischen ALR bekannt, dem zufolge das Bauen nicht zur „Verunstaltung der Städte und öffentlichen Plätze“ (§ 66 I 8 ALR) führen durfte[92]. Obwohl im bereits erwähnten Kreuzberg-Urteil gerade auf die Trennung zwischen Gefahrenabwehr und „Fürsorge für die öffentliche Wohlfahrt“ gepocht wurde[93], hielten sich die Verunstaltungsverbote, die nunmehr auf spezialgesetzliche Ermächtigungen gestützt wurden[94]. Nicht zu verkennen ist die den Verunstaltungsgeboten innewohnende Gefahr, dass sich die staatlichen Behörden zu einer ästhetischen Bevormundung aufschwingen.
3. Sozial- und Wohlfahrtspflege
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Eine weitere Funktion, die über die klassische Aufgabe des Bauordnungsrechts hinausführt, ist die sozialpflegerische, die in einigen wenigen Vorschriften der Landesbauordnungen zum Ausdruck kommt[95]. Die entsprechenden Regelungen sollen den Bedürfnissen besonders schutzbedürftiger Teile der Bevölkerung Rechnung tragen und das Miteinander sozial ausgestalten[96]. Teilweise wird die Stellplatzverpflichtung[97] hierunter gefasst, weil mit ihr die Entlastung der öffentlichen Verkehrsflächen bezweckt werde[98]. Vor allem aber verfolgen die Bauordnungen unter dem Stichwort des „barrierefreien Bauens“[99] mit dem Schutz von Menschen mit Behinderung und älteren Menschen soziale Ziele[100]. Auch die Pflicht, bei der Errichtung von Gebäuden entsprechend der Art und Anzahl der Wohnungen in angemessener Nähe einen Kinderspielplatz anzulegen[101], ist eine Ausprägung der sozialpflegerischen Funktion des Bauordnungsrechts.
4. Umweltschutz
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Neu hinzugekommen ist für das Bauordnungsrecht ferner die Aufgabe des Umweltschutzes. So beziehen die allgemeinen Anforderungen, die die Landesbauordnungen an das Bauen stellen, als Schutzgut – entsprechend der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG – auch die „natürlichen Lebensgrundlagen“[102] ausdrücklich mit ein; freilich steht insofern noch die Abwehr von Gefahren im Vordergrund. Die Normierungen einiger Bauordnungen, sparsam mit Boden, Wasser und Energie umzugehen sowie Bauabfälle und Bodenaushub möglichst zu vermeiden[103], gehen dabei weit über die Gefahrenabwehr hinaus. Hinzu tritt mittlerweile eine nicht unerhebliche Anzahl einzelner dem Umweltschutz dienender Vorschriften. Zu nennen sind Regelungen, die den Klimaschutz im Blick haben, wie etwa Anforderungen an den energiesparenden Wärmeschutz[104], Privilegierungen klimaschützender Baumaßnahmen[105] oder die Verfahrensfreistellung entsprechender baulicher Vorhaben[106]. Einige Bauordnungen räumen zudem den Kommunen die Möglichkeit ein, Maßnahmen zur Wasser- und Energieeinsparung oder Nutzung erneuerbarer Energien durch den Erlass von örtlichen Bauvorschriften zu fördern[107].
I. Überblick
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Modellhaft kann im Bauordnungsrecht zwischen zwei verschiedenen Typen von Kontrollen unterschieden werden, der präventiven und der repressiven Kontrolle (siehe Rn. 111)[108]. Im Bauordnungsrecht lag das Schwergewicht traditionell bei der Baugenehmigung als präventiver Kontrolle. Tatsächlich sehen die Landesbauordnungen im Ausgangspunkt noch vor, dass die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung einer (baulichen) Anlage der Baugenehmigung bedarf[109], obwohl sich im Zuge der Deregulierung seit den 1990er Jahren ein allmählicher Abbau der präventiven Kontrolle vollzogen hat. An die Stelle des traditionell umfänglichen Baugenehmigungsverfahrens ist für die meisten baulichen Anlagen ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren, eine Genehmigungsfreistellung[110] oder gar eine völlige Verfahrensfreistellung getreten. Diese Deregulierung soll – erstens – den Bauherrn in die Lage versetzen, seine baulichen Vorstellungen beschleunigt umzusetzen, was ihn freilich nicht von der Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften entbindet[111]. Die