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Die Ausdifferenzierung in Planungsrecht einerseits und Baupolizeirecht andererseits erfolgte indes erst im 19. Jahrhundert[33]. Für die Trennung der beiden Rechtsgebiete waren – so soll am Beispiel von Preußen gezeigt werden – vor allem zwei Entwicklungen entscheidend: An erster Stelle ist die Städtereform des Freiherrn vom Stein aus dem Jahr 1808 zu nennen[34]. Sie führte zwar in Preußen die Selbstverwaltung der Städte ein, beließ das (Bau-)Polizeirecht, welches das Bauen insbesondere im Hinblick auf die Feuersicherheit beschränkte, aber in staatlicher Hand[35]. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts räumte das Preußische Fluchtliniengesetz von 1875 den Gemeinden gewisse planerische Möglichkeiten ein, da diese nunmehr das Straßennetzgitter und damit die Bebauungsflächen für Stadterweiterungen bestimmen konnten[36]. Damit war die Trennung vorgezeichnet, die bis heute fortbesteht. Hinzu trat an zweiter Stelle – gewissermaßen spiegelbildlich zum ersten Entwicklungsstrang – die Begrenzung der staatlichen Polizeigewalt auf die Gefahrenabwehr. Hierfür stehen das sog. Kreuzberg-Urteil des Preußischen OVG vom 14.6.1882[37] sowie das zuvor ergangene „Kreuzbergerkenntnis“[38]. Gestritten wurde um die Erteilung einer baupolizeilichen Genehmigung zur Errichtung eines Hauses am Fuße des Berliner Kreuzbergs. Die Genehmigung war vom Polizeipräsidium vor allem im Hinblick auf eine Polizeiverordnung des Berliner Polizeipräsidenten vom 10.3.1879, die den Kreuzberg betraf, versagt worden. Verboten war nach der Verordnung jede Bebauung, welche die Sicht auf das dortige Siegesdenkmal, aber auch die Aussicht vom Denkmal auf die Stadt hinunter beeinträchtigt hätte. Das angerufene Gericht legte in dieser berühmten Entscheidung die für die Polizeiverordnung erforderliche Ermächtigungsgrundlage des § 10 II 17 ALR[39] – fälschlicherweise[40] – einschränkend dahingehend aus, dass sie ausschließlich zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ermächtige, nicht aber der darüber hinausreichenden „Wohlfahrtspflege“ diene. Dementsprechend war die baupolizeiliche Genehmigung zu erteilen. Freilich schloss die gefundene Interpretation des § 10 II 17 ALR für die Zukunft nicht den Erlass spezieller gesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen aus[41].
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Auch wenn die Polizei mit ihren bauordnungsrechtlichen Befugnissen nach dem Kreuzbergurteil noch Planungskompetenzen in Anspruch nahm, indem sie beispielsweise aus gesundheitspolizeilichen Gründen Flächen für Einzelbebauung festlegte oder für bestimmte Gebiete die Ansiedlung von Fabriken untersagte[42], so zeichnete sich doch eine Trennung der Materien ab, die grundsätzlich auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann: Auf der einen Seite das Bauplanungsrecht, dessen Konzeption sich allerdings vor allem im 20. Jahrhundert noch mehrfach änderte, auf der anderen Seite das Bauordnungsrecht, welches seinem liberalen Wesen – Gefahrenabwehr beim Bau – im Grunde treu blieb und zu dem lediglich Vorschriften mit sozialem und umweltrechtlichem Einschlag hinzutraten[43].
III. Rechtsquellen
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Es wurde bereits dargestellt, dass unter dem Grundgesetz die Länder im Bauordnungsrecht zur Gesetzgebung befugt sind und jeweils mit entsprechenden Landesbauordnungen von ihrer Kompetenz Gebrauch gemacht haben[44]. Um eine gewisse Rechtsvereinheitlichung zu ermöglichen, hat die Konferenz der für Städtebau, Bau- und Wohnungswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder (ARGEBAU) schon 1959 die erste Musterbauordnung (MBO) entwickelt[45], die seither mehrfach überarbeitet worden ist. Zielte diese ursprünglich auf eine Vereinheitlichung des Bauordnungsrechts[46], so versteht sich die aktuelle MBO 2002/2016[47] angesichts zahlreicher divergierender Novellierungen der Landesbauordnungen vor allem in den 1990er Jahren nur noch als Orientierungshilfe und entwicklungsoffener Rahmen[48]. Tatsächlich weichen die derzeitigen Bauordnungen der Länder bisweilen beträchtlich von der aktuellen MBO ab. Dennoch kann die MBO noch als gemeinsamer Nenner der Länderregelungen bezeichnet werden[49], ohne dass ihr Rechtsnormqualität zukäme.
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Das Bauordnungsrecht ist Teil des Rechts der Gefahrenabwehr, so dass die Frage zu klären ist, wie es sich zum Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsrecht verhält. Dies ist nach allgemeinen Regeln zu beantworten: Als leges speciales gehen die Landesbauordnungen den jeweiligen landesrechtlichen Polizeigesetzen vor. Freilich kann auf die allgemeineren Polizeigesetze zurückgegriffen werden, sofern es an Regelungen in den Bauordnungen der Länder fehlt. Wichtigstes Beispiel hierfür sind die allgemeinen polizeirechtlichen Störerregelungen, die auch in bauordnungsrechtlichen Fällen zur Anwendung gelangen können. Allerdings ist zeitlich zu differenzieren: Eine Regelungslücke besteht erst nach Fertigstellung des jeweiligen baulichen Vorhabens, denn während der Bauphase greifen die speziellen bauordnungsrechtlichen Verantwortlichkeitsregelungen über die am Bau Beteiligten[50], so dass ein Rückgriff auf das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsrecht ausgeschlossen ist[51]. Ein weiteres Beispiel betrifft die Auslegung polizeirechtlicher Begriffe in den Landesbauordnungen, etwa desjenigen der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“[52], die wie in den Sicherheits- und Ordnungsgesetzen erfolgt.
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Die Landesbauordnungen ermächtigen zum Erlass ministerieller Rechtsverordnungen[53]. In ihnen werden beispielsweise die allgemeinen Anforderungen an das Bauwerk, die Bauausführung und die Bauprodukte näher konkretisiert. Als leges speciales gehen sie den allgemeinen Tatbeständen der Landesbauordnungen vor[54]. Darüber hinaus geben die Landesbauordnungen den Gemeinden die Möglichkeit, etwa zu Materien wie Abstandsflächen, der äußeren Gestaltung baulicher Anlagen oder zum Klimaschutz örtliche Bauvorschriften durch Satzung zu erlassen[55]. Ergänzt werden die Bestimmungen der Landesbauordnungen ferner durch technische Regelwerke, die über Rezeptionsnormen in die Landesbauordnungen Eingang finden[56]. Bei den technischen Regelwerken handelt es sich um private Normenkataloge wie die Regelungen des Deutschen Instituts für Normung (DIN)[57]. Beispielsweise normiert DIN 4108 Anforderungen bezüglich des bauordnungsrechtlichen Wärmeschutzes; DIN 18040-2 betrifft Normen zum barrierefreien Bauen. Diese Regelwerke haben die Funktion, die in den Landesbauordnungen formulierten Aufgaben und Ziele des Bauordnungsrechts, vor allem die Bausicherheit[58], zu konkretisieren und in verbindliche und greifbare, oft auch numerisch bestimmbare Maßstäbe zu überführen[59]. Darüber hinaus folgt die bauordnungsrechtliche Technikrezeption den politischen Zielen der Deregulierung und Privatisierung: Die staatliche Normierungsdichte soll gesenkt, der Staat durch Zusammenarbeit mit privaten Normungsinstanzen entlastet sowie das Fachwissen Privater nutzbar gemacht werden[60].
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Die Regelungsmechanismen der Technikrezeption haben sich zwischenzeitlich verändert[61]. Früher verwiesen die Landesbauordnungen jeweils auf die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“, die zu beachten waren[62]. Allerdings führte dieser pauschale Verweis zu Schwierigkeiten bei der Bestimmung, wann private technische Regelwerke als allgemein anerkannt zu charakterisieren sind[63]. Zudem bestand eine große, als bürokratisches Hindernis angesehene Fülle an zu beachtenden technischen Regeln. Mittlerweile haben alle Landesbauordnungen ihre Regelungstechnik umgestellt. Nunmehr werden private technische Regelwerke durch die oberste Bauaufsichtsbehörde als technische Baubestimmungen bekanntgemacht[64]. Nur in wenigen Bundesländern beziehen sich die Bauordnungen daneben noch immer auf die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“[65].
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Die technischen Baubestimmungen sind selbst keine Rechtsnormen. Umstritten ist, ob, und wenn ja, auf welche Weise ihnen Rechtsverbindlichkeit zukommen kann. Allein die Bekanntmachung durch eine staatliche Behörde reicht hierfür nicht aus[66]. Allerdings könnte den technischen Baubestimmungen aufgrund der Bezugnahme in den Bauordnungen Verbindlichkeit zukommen (vgl. § 73a Abs. 1 S. 2 LBO BW: „Die technischen Baubestimmungen sind zu beachten.“)[67]. Hiergegen sprechen aber die verfassungsrechtlichen Anforderungen der aus dem Vorbehalt des Gesetzes folgenden Wesentlichkeitstheorie, wonach der wesentliche Inhalt einer Regelung, insbesondere wenn diese in Grundrechte eingreift, in einer dem Bestimmtheitsgebot