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Doch ändert dies alles letztlich nichts daran, dass sich durch die im Grundgesetz vollzogene vollständige Parlamentarisierung des Regierungssystems[87] das Parlament gegenüber der Weimarer Verfassung stärker in die Verantwortung genommen sieht, indem es sich nicht mehr auf die bloße Duldung einer von dritter Seite kreierten Regierung und das Betreiben negativer Politik beschränken kann.[88] Für den Bundeskanzler zeichnet der Bundestag verantwortlich.
bb) Restriktive Verordnungskompetenz der Exekutive
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Eine ähnliche Inpflichtnahme begegnet bei der Gesetzgebung. Hier verleiht der Ausschluss direktdemokratischer Elemente (dazu unten, Rn. 24) dem Bundestag gewissermaßen eine Monopolstellung. Der Versuchung, sich dieser umfassenden Normsetzungsaufgabe weitgehend durch Delegation auf die Exekutive zu entziehen, schiebt Art. 80 GG einen Riegel vor. Dieses „Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte“[89] intendiert mit seiner gleich dreifachen Bindungsklausel vor allem den Ausschluss umfassender gesetzlicher Ermächtigungen, wie sie in der Weimarer Republik an der Tagesordnung waren und dort zu gesetzesvertretenden, -aufhebenden, -verändernden und sogar verfassungsändernden Verordnungen führten.[90] Art. 80 GG nimmt das Parlament gleichsam in die Rechtsetzungspflicht und hindert es daran, „sich seiner Verantwortung als gesetzgebender Körperschaft zu entäußern“[91]. Die autonomen Gestaltungsmöglichkeiten exekutiver Rechtsetzung sind somit stärker als in vielen anderen Staaten der Europäischen Union[92] limitiert.
cc) Föderale Staatsform
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Das in der deutschen Geschichte tief verwurzelte Gestaltungsprinzip föderaler Ordnung[93] mit seinem typischen Effekt vertikaler Gewaltenteilung ist mit totalitären Ordnungen unvereinbar. Deshalb zählte die Entföderalisierung des Reiches zu den primären Maßnahmen des NS-Regimes.[94] Ebenso selbstverständlich war es, Nachkriegsdeutschland wieder als Bundesstaat zu etablieren und damit den totalitären Zentralismus als „klar diskreditierte Episode“ einzustufen.[95] Darüber konnte es im Grundsatz keinen ernsthaften Dissens geben, zumal nach 1945 zunächst die Kommunen und die Länder wiedererstanden, welche das Grundgesetz nun als durchaus erwünschte Realität vorfand. Es hätte daher der entsprechenden Vorgaben in den Frankfurter Dokumenten eigentlich nicht bedurft.[96] Doch war durch diese Konvergenz der föderale Gedanke gewissermaßen doppelt abgesichert: als eigener Wunsch der Deutschen wie als verbindliche Vorgabe der Alliierten. Dass es im Parlamentarischen Rat gleichwohl ein intensives Ringen um die Ausgestaltung im Einzelnen[97] und immer wieder Interventionen der Militärgouverneure gab,[98] folgt aus der Fülle alternativer Regelungsmöglichkeiten, die jeden Bundesstaat zu einem Unikat[99] werden lässt. Letztlich siedelte sich das Grundgesetz insofern zwischen der Reichsverfassung von 1871 mit ihrer starken Betonung der Eigenständigkeit der Gliedstaaten und der Weimarer Reichsverfassung mit ihrem ebenso klar ausgeprägten unitarischen Charakter an.
dd) Kompetenzstarkes Bundesverfassungsgericht
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Die Einrichtung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit war schon für den Herrenchiemseer Verfassungskonvent selbstverständlich: zum einen, weil man eine gerichtliche Absicherung der Grundrechte für notwendig hielt, zum anderen, weil die Vorgänge am Ende der Weimarer Republik den Glauben an einen effektiven Schutz der Verfassung durch das Parlament oder den Reichspräsidenten „nachhaltig erschüttert“ hatten.[100] Es wäre aber zu kurz gegriffen, in der Etablierung des Bundesverfassungsgerichts zuvörderst einen misstrauischen Vorbehalt gegenüber der parlamentarischen Demokratie erblicken zu wollen. Denn von Anlage und Konzeption her konnte man an sehr viel ältere Vorbilder, vornehmlich und einmal mehr an Regelungen der Paulskirchenverfassung,[101] anknüpfen, die ihrerseits ohne das amerikanische Vorbild nicht zu denken gewesen wären.[102] Entscheidend war und ist vielmehr der konstruktive Aspekt, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit den zentralen Gedanken des Vorrangs der Verfassung (dazu unten, Rn. 85ff.) komplettiert, indem sie eine entsprechende justizielle Kontrolle von Verstößen gegen diese einrichtet.[103] Die Kompetenzfülle des Bundesverfassungsgerichts geht freilich nicht nur weit über die relativ bescheidenen Zuständigkeiten des Weimarer Staatsgerichtshofs hinaus, sondern darf – vielleicht mit Ausnahme einiger Verfassungsgerichte ehemaliger Ostblockstaaten – weltweit als einzigartig gelten.[104]
ee) Ausschluss direkter Demokratie
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Wichtig für das Verständnis einer Verfassung ist nicht allein, was diese positiv regelt, sondern auch, was bewusst ausgeschlossen wird. Das erweist sich bei der Nichtaufnahme direktdemokratischer Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid. Auch hier stützte man sich in den Beratungen auf Weimarer Erfahrungen. Doch handelte es sich insofern weniger um Lehren als um Legenden. Während der Herrenchiemseer Konvent zwar nur, aber immerhin noch für Verfassungsänderungen einen Volksentscheid vorgesehen hatte,[105] legte man im Parlamentarischen Rat von Anbeginn starke Betonung auf die (rein) repräsentative Ausgestaltung der Demokratie. Schon in einem sehr frühen Beratungsstadium hatte Theodor Heuss die suggestive Formel von Volksbegehren und Volksinitiative als einer „Prämie für jeden Demagogen“ geprägt.[106] Der Verzicht auf direktdemokratische Elemente jeder Art erfolgte einer ebenso verbreiteten wie unzutreffenden Einschätzung zufolge mit Blick auf die agitatorischen Praktiken der politischen Parteien in der Weimarer Republik einerseits, als Reaktion auf die so genannten Volksabstimmungen im NS-Staat andererseits.[107] Letztere dienten jedoch lediglich als Propagandainstrumente mit feststehendem Ausgang und scheiden als Argument gegen Volksentscheidungen im demokratischen Verfassungsstaat von vornherein aus. Aber auch die Berufung auf vermeintlich negative Weimarer Erfahrungen hält einer näheren Prüfung nicht stand: die Zahl der Volksentscheide war – auf Reichsebene – mit gerade zweien außerordentlich gering und auch die der Volksbegehren mit sechs nicht sonderlich hoch;[108] agitatorische Praktiken begegnen auch bei Wahlkämpfen und sind kein Spezifikum des Meinungsstreites bei Volksentscheiden; anderen Faktoren wie der fehlenden Verankerung der freiheitlichen Republik in den politisch, wirtschaftlich und kulturell führenden Schichten kommt für den Untergang Weimars erheblich größere Bedeutung zu als den direktdemokratischen Elementen. Für deren Ausschluss im Grundgesetz bieten angeblich „negative“ Weimarer Erfahrungen also keine tragfähige Basis.[109] Das gilt im Übrigen gerade auch, wenn man die entsprechende Praxis auf der Landesebene einbezieht.[110] Die tatsächlich entscheidenden Gründe für den Ausschluss direktdemokratischer Elemente dürften anderer, wesentlich zeitgeschichtlicher Natur gewesen sein.[111] Ansonsten wäre auch schlecht zu erklären, warum angesichts einer behaupteten historischen