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Als hervorhebenswert darf hingegen der intensive Rezeptionsprozess gelten, den die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ im Parlamentarischen Rat erfahren hat. Die ihm vorliegenden Entwürfe entfalteten ein hohes Maß an Anziehungskraft und partiell auch an Vorbildfunktion. Nicht weniger als dreizehn Mal verweist Bergsträßers früh ausformulierter Vorschlag für einen Grundrechtskatalog auf das UN-Dokument in der seinerzeit vorliegenden Fassung,[136] etwa bei der Freiheit der Person und dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung, dem Ausweisungsschutz von Fremden, der Glaubens- und Gewissensfreiheit oder dem Petitionsrecht. Auch wenn sich im weiteren Verlauf noch vieles veränderte, kam man auf die AEMR doch immer wieder zurück: häufig zur Bestätigung eigener Vorstellungen, seltener in bewusster Absetzung, zuweilen im Weg expliziter Anleihen. An solchen ausdrücklichen Übernahmen ist das Verbot willkürlicher Entziehung der Staatsangehörigkeit zu nennen, und auch bei der Formulierung der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Rechts auf Leben spielte der UN-Entwurf eine Rolle. Am Schluss der Beratungen kam es dann noch einmal zu einem regelrechten Abgleich mit dem Grundgesetz, ohne dass man sich zu einer Übernahme der sozialen und kulturellen Bestimmungen der AEMR entschließen konnte.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 5. Zentrale Streitpunkte und schwierige Kompromisse
5. Zentrale Streitpunkte und schwierige Kompromisse
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Bei der Entstehung des Grundgesetzes herrschte von Anbeginn über wesentliche Grundlinien ein hohes Maß an Übereinstimmung. Ansonsten waren natürlich Formulierungen und Detailregelungen aller Art Gegenstand unablässigen Ringens. Wirklich harter und das Gesamtwerk beinahe gefährdender Streit entbrannte in den stark „weltanschaulich“ geprägten Fragen von Ehe, Familie und Schule sowie der Aufnahme staatskirchenrechtlicher Artikel (dazu a, b). Auch die föderale Problematik blieb ein „Dauerbrenner“ (c). Es ist bezeichnend, dass die bei der Schlussabstimmung im Parlamentarischen Rat abgegebenen Nein-Stimmen fast durchweg mit einem Dissens zu den hier letztendlich gefundenen Kompromissen begründet wurden.
a) Ehe und Familie, Schule und Elternrecht
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Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee hatte mit Rücksicht auf den provisorischen Charakter des Grundgesetzes und das vermutete geringe Konsenspotential Regelungen zu diesen Themenkomplexen nicht vorgesehen.[137] Im Parlamentarischen Rat trat vor allem die CDU-Fraktion für eine explizite Garantie von Ehe und Familie ein und begründete dies u.a. mit Hinweis auf eine entsprechende Regelung im UN-Entwurf für die AEMR. SPD und FDP verwiesen hingegen darauf, dass der Vorschlag[138] im Gegensatz zu den sonstigen Grundrechtsgarantien gerade keine unmittelbaren Rechtsfolgen entfalte und kulturelle bzw. soziale Fragen Sache der Länder seien.[139] Nachdem dann das „Ob“ einer solchen Norm konsentiert war, ging der Streit im Wesentlichen um ihre inhaltliche Ausgestaltung, konkret: ihre Ergänzung um den Schutz lediger Mütter und die Gleichstellung unehelicher Kinder, wogegen sich wiederum die Konservativen sträubten. Mit dem Schutzanspruch jeder Mutter (Art. 6 Abs. 4 GG) und dem auf einen Gesetzgebungsauftrag herabgestuften Gleichstellungsanspruch der unehelichen Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) wurden schließlich im Redaktionsausschuss mehrheitsfähige Kompromisse gefunden.[140]
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Schulwesen und Elternrecht[141] wollten die großen Fraktionen zunächst einvernehmlich ungeregelt lassen, mussten das jedoch auf Druck der Kirchen hin revidieren.[142] Die folgenden scharfen Auseinandersetzungen, die bedrohlich für die Verabschiedung insgesamt wurden, konzentrierten sich auf das von den Konservativen als unverzichtbares Naturrecht begriffene und von SPD und FDP abgelehnte Recht der Eltern, über die religiös-sittliche Erziehung ihrer Kinder und die entsprechende Gestaltung der Schule selbst entscheiden zu dürfen.[143] Damit hing die ebenso kontrovers beurteilte Frage der Konfessionsschulen zusammen, für die Menzel (SPD) etwa die Zuständigkeit der Länder reklamierte, während Heuss (FDP) die Eingliederung der konfessionsverschiedenen Flüchtlinge erschwert sah. Der letztlich im Fünfer-Ausschuss ausgehandelte Kompromiss, wie er Gestalt in Art. 7 Abs. 1–3 GG gewann, hielt Abänderungsversuchen zur Stärkung des Elternrechts stand.[144] Auch bei der Zulassung von Privatschulen, besonders von SPD und KPD als Privileg für Kinder begüterter Eltern bekämpft, fand man im Fünfer-Ausschuss den in Art. 7 Abs. 4–6 GG bis heute gültigen Mittelweg.[145]
b) Staatskirchenrechtliche Artikel
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Als weiterer zentraler Streitpunkt schälte sich, wenig überraschend, die Frage heraus, ob und inwieweit das Grundgesetz überhaupt Regelungen bezüglich der Rechtsstellung von Kirchen und Religionsgesellschaften enthalten sollte. Der Herrenchiemseer Konvent hatte hierzu geschwiegen. Im Parlamentarischen Rat „prallten die weltanschaulichen Gegensätze so heftig und anscheinend unüberbrückbar aufeinander, daß zeitweise eine Gefährdung des gesamten Verfassungswerks zu besorgen war“[146]. Ähnlich wie schon in Weimar standen sich Vorstellungen der den Kirchen nahestehenden Parteien einerseits, der SPD und der KPD andererseits annähernd unversöhnlich gegenüber.[147] Die rechten Parteien strebten volles Selbstbestimmungsrecht, Ausschluss der Staatsaufsicht, Körperschaftsstatus sowie Garantien kirchlichen Eigentums und staatlicher Leistungen an, während die Linke auf eine deutliche Entflechtung von Staat und Kirche und deren Einordnung in das allgemeine Verbandsrecht zielte und darauf verwies, dass nach dem Vorbild der Kirchen auch andere soziale Gruppen (gemeint waren wohl die Gewerkschaften) Ansprüche auf entsprechend privilegierte Ausgestaltung ihres Tätigkeitsfeldes erheben könnten.[148] Wie in Weimar gaben letztlich die Liberalen den Ausschlag, indem sie die Übernahme des dort gefundenen Kompromisses und die Inkorporation der Weimarer Artikel in das Grundgesetz vorschlugen, was sich letztlich in Gestalt des Art. 140 GG durchsetzte.[149] Versuche, einzelne Regelungen herauszubrechen,[150] scheiterten; andererseits blieb auch der Hinweis der SPD, dass „alle anderen früher verfassungsrechtlich garantierten Rechte auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialordnung unter den Tisch“ gefallen seien,[151] ohne durchschlagenden Erfolg. Die noch einmal besonders schwierige und kontroverse Frage der Weitergeltung des Reichskonkordats und anderer staatskirchenrechtlicher Verträge wurde in Gestalt des Art. 123 Abs. 2 GG einer eher unbefriedigenden Lösung zugeführt.[152]
c) Föderalismus (insb. Zweite Kammer, Gesetzgebungskompetenzen, Finanzhoheit)
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So konsentiert die Grundentscheidung für die föderale Ordnung war, so umstritten war die Ausgestaltung im Einzelnen.[153] Selbst in den Parteien herrschten keine einheitlichen Vorstellungen. Gespalten war die CDU/CSU-Fraktion: die Vertreter der süddeutschen Länder favorisierten einen tendenziell staatenbündischen Ansatz, während Adenauer und die nord- und westdeutschen Verbände einen eher gemäßigten Föderalismus bevorzugten. Die SPD dachte traditionell stärker unitarisch. Vor allem die Rücksichtnahme auf die süddeutschen Länder führte letztlich zu einer im Vergleich zur Weimarer Verfassung länderfreundlicheren Ausgestaltung.
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Zwei Komplexe waren besonders umstritten. Zum einen handelte es sich um die Ausgestaltung der zweiten Kammer, wobei SPD und norddeutsche CDU für ein Senatsmodell amerikanischer Prägung votierten, die süddeutsche CDU/CSU sowie DP und Zentrum für einen am Vorbild des Kaiserreiches und Weimars orientierten Bundesrat mit weisungsgebundenen Vertretern der Landesregierungen.[154] Bei den legislativen Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates strebte die CDU ein generelles Zustimmungserfordernis für Bundesgesetze an, während die SPD eine Blockadepolitik befürchtete und ein bloßes Einspruchsrecht favorisierte.[155] Der Kompromiss einer Differenzierung