Jede Verfassung verarbeitet historische Erfahrungen und stellt zugleich eine Art von „Bauplan“[38] für die Zukunft der Gesamtgesellschaft dar. Die französischen Revolutionsverfassungen setzten sich ebenso deutlich vom monarchischen Absolutismus ab wie die Amerikaner vom britischen Konzept der Parlamentssouveränität; diesseits wie jenseits des Atlantiks werden demgegenüber Garantien für die Freiheit und Gleichheit der Menschen proklamiert. Nicht anders betonte und besiegelte die Weimarer Reichsverfassung mit ihrem Art. 1 Abs. 1 („Das Deutsche Reich ist eine Republik.“) die Überwindung der monarchischen Staatsform und setzte für die Zukunft sozialstaatliche, auch Wirtschaft und Gesellschaft umfassende Akzente.
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Das Grundgesetz musste sich beim unausweichlichen historischen Rückbezug gleich auf zwei Vorgängersysteme konzentrieren, da es gleichermaßen eine Antwort auf das im und durch den Krieg untergegangene „Dritte Reich“ darstellte wie die vielbeschworenen Weimarer Erfahrungen zu verarbeiten hatte. Diese Vergangenheit bildete „Erfahrungshorizont und Erblast“[39] des Grundgesetzes. Es erweist sich demgemäß als „ganz entscheidend durch den Rückblick auf die Nazidiktatur und die Weimarer Verfassung bestimmt“.[40] Die Erfahrung des totalitären Regimes nahm dabei von Anbeginn die Form eines „Kontrastbezuges“[41] an. Das bedeutet: die entsprechenden, häufig sehr grundsätzlichen Entscheidungen wandten sich gegen die massenhafte Verletzung von Menschenrechten und Menschenwürde, gegen die Konzentration der gesamten Staatsgewalt in den Händen eines Führers, gegen die Zerschlagung demokratischer Institutionen und föderaler Ordnung, gegen Rassenwahn und kriegerische Expansion.[42] Beim Blick zurück auf Weimar geht es hingegen stärker um die (nicht immer mit der gebührenden Tiefenschärfe durchgeführte) Analyse von Fehlkonstruktionen[43] oder -entwicklungen, um die differenzierende Befunderhebung, um die Suche nach besseren Alternativen, um Vermeidung vermeintlicher Schwächen und Unzulänglichkeiten, um konstruktive Lehren aus zum Teil bitteren Erfahrungen – und nicht einfach nur um das glatte Gegenteil des soeben untergegangenen totalitären Regimes.[44]
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 3. Konsequenzen für zentrale Regelungskomplexe
3. Konsequenzen für zentrale Regelungskomplexe
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Aus dem skizzierten Doppelbezug erwuchsen prägende Strukturen des Grundgesetzes. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Grundrechten (a), bei einigen Elementen der Staatsorganisation (b) sowie der auffälligen Tendenz zur verstärkten Bestandssicherung der Verfassung (c).
a) Grundrechte und Menschenwürde
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Nach der systematischen Missachtung von Menschenwürde und Menschenrechten in der Zeit des Nationalsozialismus war es im Grunde keine Frage, mit dem Grundgesetz ein Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit der Menschen abzulegen und die Rechte des Individuums besonders stark herauszuheben. Es ist dies der wesentliche Grund, warum der Parlamentarische Rat wie vorher schon der Herrenchiemseer Konvent in Abweichung von der Tradition deutscher Staatsgrundgesetze mit dem Abschnitt über „Die Grundrechte“ beginnt und an deren Spitze den Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde stellt.[45]
aa) Rückbesinnung auf tradierte Grundrechte
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Bei den Beratungen zum Grundrechtskatalog wurden Wunsch und Wille zur Wiedereingliederung in die freiheitliche westliche Verfassungstradition, wie sie von Deutschland selbst nicht unmaßgeblich mitgeprägt worden war, besonders augenfällig. Kurzzeitig virulente Überlegungen, entgegen den Vorgaben des Frankfurter Dokumentes Nr. I[46] auf einen Grundrechtskatalog zu verzichten und sich auf ein reines Organisationsstatut zu beschränken, waren rasch überwunden.[47] Carlo Schmid, der auf Herrenchiemsee noch für diese restriktive Lösung plädiert hatte,[48] trat in einer großen Rede in der ersten Plenumssitzung des Parlamentarischen Rates vom 8. September 1948 mit Verve für starke, verbindliche und das Grundgesetz insgesamt prägende, ja sie gleichsam „regierende“ Grundrechte ein, die keinesfalls „bloße Deklamationen, Deklarationen und Direktiven“ sein dürften.[49]
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Dem mit der Ausarbeitung eines Grundrechtsteils betrauten „Ausschuß für Grundsatzfragen“ trug sodann Ludwig Bergsträßer einleitend ein kurzes Referat[50] vor, das den Worten des Vorsitzenden v. Mangoldt zufolge die Ausschussmitglieder über „das Wesen und Werden der Grundrechte unterrichten“ sollte.[51] In diesem Akt der Wiedervergewisserung über deren ideen- und verfassungsgeschichtliche Grundlagen schlug er einen großen historischen Bogen von der Magna Carta 1215 über die Virginia Bill of Rights von 1776 und die 1789 verkündete Déclaration des droits de l’homme et du citoyen bis hin zur Paulskirchen- und zur Weimarer Verfassung. Sehr bald konnte dann im Ausschuss Einigkeit darüber erzielt werden, sich weitgehend auf die Aufnahme der so genannten „klassischen“ liberalen Abwehrrechte zu beschränken, zu denen man üblicherweise die justizstaatlichen Garantien (nulla poena sine lege, Schutz vor willkürlicher Verhaftung, rechtliches Gehör), wesentliche Kommunikationsgrundrechte (Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) sowie Eigentums- und Berufsfreiheit zählt.[52] Für diese im bemerkenswerten Kontrast zu den vorkonstitutionellen Landesverfassungen[53] stehende Beschränkung gab es im Wesentlichen zwei Gründe, die den historischen Doppelbezug (vgl. oben, Rn. 7) exemplarisch belegen. Zum einen hatte gerade die Missachtung menschlicher Würde, Freiheit und Gleichheit in der NS-Zeit die Notwendigkeit dauerhafter Sicherung der Grundrechte erwiesen, die in der Zwischenkriegszeit europaweit und bei weitem nicht nur in Deutschland in die Defensive geraten und von anderen, sei es ständisch-korporativen, sei es autoritären oder totalitären Konzepten zurückgedrängt oder gänzlich verdrängt worden waren.[54] Dieser auch von Bergsträßer angesprochene Bezug wurde in der folgenden Debatte vom späteren langjährigen hessischen Ministerpräsidenten Zinn klar zum Ausdruck gebracht: „Nach den Exzessen der staatlichen Macht in den vergangenen 12 Jahren haben auch die klassischen Grundrechte wieder eine evidente Bedeutung erlangt.“[55] Zum anderen war es nur bei Konzentration auf liberale Abwehrrechte möglich, den Grundrechten durchgängig den Charakter unmittelbarer und einklagbarer subjektiver Rechte im Sinne der von Carlo Schmid erhobenen Forderung zu verleihen. Hiermit war eine signifikante Veränderung im Verhältnis zur Weimarer Reichsverfassung vollzogen. Nicht, dass man dort Grundrechte ganz generell nur als Programmsätze und Direktiven für den Gesetzgeber gekannt hätte, wie man aufgrund einer hartnäckig sich haltenden Legende auch heute noch immer wieder lesen und hören kann.[56] Die Weimarer Reichsverfassung enthielt eine Vielzahl an klassisch-liberalen Gewährleistungen, die zumeist schon aus der Paulskirchenverfassung bekannt und nicht selten mit ihr wortgleich waren (wie z.B. die Freizügigkeit, die Auswanderungsfreiheit, die Freiheit der Person, der Schutz der Wohnung sowie des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses u.v.a.m.). An ihrem Charakter als aktuell geltendem, unmittelbar anwendbarem, „für Behörden und Bürger“ verbindlichem Recht[57] bestand kein Zweifel. Aber der mit „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ überschriebene Zweite Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung kannte eben darüber hinaus eine Vielzahl von Bestimmungen zu den so genannten „Lebensordnungen“, zum Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben: Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie, Schutz der Jugend vor Ausbeutung und Verwahrlosung, Schulwesen und Lehrerbildung, gesunde Wohnungen, Nutzung der Bodenschätze, Sozialversicherungswesen, Schutz des Mittelstands sowie Arbeiter- und Wirtschaftsräte u.a.m. Von solchen Materien hielt sich der Parlamentarische Rat sub specie Grundrechte (weitgehend) fern. Und wo man ihnen dann doch wie bei den staatskirchenrechtlichen Regelungen oder den Grundrechtsartikeln zu Schule, Ehe und Familie nahetrat, blieben heftige Kontroversen nicht aus (dazu unten, Rn. 33ff.).